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Unionsverlag
Pablo de Santis
Kindler
Susan Coll
Manesse
Pierre Louÿs

 
Fritz Müller-Zech 44
Die Kolumne
 

Der karge Schein einer Taschenlampe beleuchtet die Seiten einer mehrere Wochen alten Spiegel-Ausgabe, während draußen ein ausdauernder Regen fällt. Glücklicherweise hat sich der Graben, den ich um mein Ein-Mann-Zelt Marke "Hundehütte" gezogen habe, bislang bewährt und die Wassermassen davon abgehalten, meine spärlichen Reiseutensilien und vor allem den kleinen Stapel an Neuerscheinungen neben der Luftmatratze nachhaltig in Mitleidenschaft zu ziehen.
Seit zehn Tagen harre ich nun schon auf dem kleinen Campingplatz irgendwo in Europa aus. Ein Vorschuß der Erker-Redaktion machte es möglich, daß ich bereits Mitte Juli mit gepacktem Rucksack und einem Schild "Nach Süden" an der Autobahnauffahrt Haltern-Lavesum stehen konnte. Leider verfolgten mich atlantische Tiefausläufer mit einer maliziösen Beharrlichkeit, daß ich beinahe glauben möchte, mindestens einer der von mir immer wieder gerne beschimpften Verfasser unsäglicher Romane und grauenvoller Gedichte habe zum Wettergott einen erheblich besseren Kontakt als zu den Musen. Und nun rächt sich die Leichtfertigkeit, mit der ich Begriffe wie "Stammelprosa", "poetische Bankrotterklärung" oder "narrativer Super-GAU" benutzt habe, um meinen Kolumnen den richtigen Pfiff zu verleihen. Deshalb lese ich auch seit Tagen nichts anderes als die alten Spiegel, die die anderen Camper in der Kantine, wo ich mir ab und an ein heißes Würstchen und ein Glas Bier gönne, liegen lassen. Von den Neuerscheinungen habe ich bisher nur die Klappentexte zur Kenntnis genommen. Zu groß ist die Furcht, daß beim ersten kritischen Gedanken mein Drainage-System kollabieren würde und ich den Rest des Urlaubs in einem feuchten Schlafsack verbringen müßte. Andererseits darf ich nicht mit leeren Händen heimkehren. Wochenlange Fronarbeit im Lager von Paul Kaczmareks An- und Verkaufladen wäre nötig, um den Vertrauensverlust der Erker-Redaktion wenigstens finanziell zu kompensieren. Diese Vorstellung schreckt so sehr, daß ich flugs den Spiegel beiseite lege und zum ersten Buch greife. Und ich habe gut daran getan. Pablo de Santis' Roman Die Fakultät entwirft die Welt als Bibliothek. Das ist nicht unbedingt neu, aber immer wieder vergnüglich zu lesen. Auf Vermittlung seiner Mutter tritt der dreißigjährige Doktorand der Literaturwissenschaft Esteban Mir� seine erste Stelle an; er wird Assistent des skurrilen Professors Conde, der in einem alten Fakultätsgebäude der Universität Buenos Aires seinen Forschungen über das verschollene Schriftstellergenie Homero Brocca nachgeht. Nun ist gar nicht sicher, ob es diesen Dichter überhaupt gegeben hat, da keine Zeile seines Werkes im Original nachzuweisen ist. Dennoch ist Conde nicht der einzige Wissenschaftler, der an Brocca interessiert ist. Und weder er noch seine Konkurrenten sind zimperlich in der Wahl ihrer Mittel. In dem langsam verfallenden, mit beschriebenem Papier vollgestopften Universitätsgebäude wird Mir� Zeuge bizarrer Vorgänge und kommt, so glaubt er zumindest, einem groß angelegten Wissenschaftsschwindel auf die Spur. Doch was ist in der Welt der Fiktionen eindeutig als Lüge zu identifizieren? De Santis hat eine wunderbar selbstreferentielle Satire auf den Wissenschaftsbetrieb und das Interpretationsgeschäft verfaßt, deren traditionelle Erzähloberfläche der Lektüre im Liegen, zu der ich momentan gezwungen bin, entgegenkommt. Die Beschreibung der ständig von Wasserrohrbrüchen und anderen Katastrophen bedrohten Bibliotheksräume erscheint dabei übrigens ziemlich realistisch, ein Eindruck, den der Autor in einem als Anhang abgedruckten Interview bestätigt. Er habe in diesem Punkte nämlich nichts erfunden, sondern einfach den tatsächlichen Zustand der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Buenos Aires geschildert.
Ganz so rätselhaft wie in Die Fakultät geht es in Susan Colls Roman karlmarx.com nicht zu, obwohl auch hier an absonderlichen Begebenheiten kein Mangel herrscht. Diesmal ist es Ella, Tochter aus reichem Hause und Doktorandin der Politologie, die ihr erster Job an einem obskuren Institut für Ideenforschung in Washington in Verwirrung stürzt. Eine Website mit Karl-Marx-Geschenkartikeln soll sie aufbauen, um der Philosophie des schwer in Verruf geratenen Denkers zu neuem Aufschwung zu verhelfen. Gleichzeitig arbeitet sie an einer Biographie der Marx-Tochter Eleanor. Beide Vorhaben kommen schon deshalb nicht voran, weil sich die Protagonistin in einen britischen Ornithologen mit dem sprechenden Namen Nigel Lark verliebt. Und dies ist nur die Ausgangskonstellation einer immer verwickelter werdenden Romanhandlung, deren Wiedergabe durch Ella immer wieder von teils erfundenen, teils authentischen Anekdoten aus dem Leben von Eleanor Marx unterbrochen wird. Das ist streckenweise sehr amüsant zu lesen und manchmal auch hübsch bissig, aber kaum geeignet, einen tieferen Eindruck zu hinterlassen. Vielleicht ist dies die Art von Literatur, der Kritiker gerne das Attribut "intelligente Unterhaltung" anheften. Doch, ich bin mir ziemlich sicher, daß karlmarx.com in diese Kategorie paßt. Und muß tatsächlich entdecken, daß der Klappentext den Roman ähnlich, nämlich als "intelligentes Buch" einordnet.
Nun möchte ich eigentlich am liebsten ein richtig dummes Buch lesen, einen Roman, dem ich mich überlegen fühlen kann, um mich für meine mißliche Lage ein wenig zu entschädigen. Denn mittlerweile hat es zwar zu regnen aufgehört, doch dafür muß ich feststellen, daß meine Barschaft zur Neige geht. Die Platzgebühr habe ich zwar für den Rest der Woche bezahlt, so daß ich zumindest ein textiles Dach über dem Kopf habe, doch für Würstchen und Bier ist nicht mehr genug in meinem Brustbeutel. Von meinen Lebensmittelvorräten sind nur noch eine Dose Ravioli und eine Dose Texaseintopf übrig. Nun tut strengste Rationierung not. Mit knurrendem Magen durchforsche ich die restlichen Rezensionsexemplare, als mein Blick auf ein Manesse-Bändchen fällt, das beinahe unter den Spiegel-Heften begraben worden wäre. Glück gehabt! Vielleicht kann mich Dieses obskure Objekt der Begierde, ein Roman des Belle-Epoque-Autors Pierre Louÿs aus dem Jahre 1898, für einige Zeit ablenken. Es handelt sich hier zwar keinesfalls um ein dummes Buch, aber es genügt seinem Zweck aus anderen Gründen, schildert es doch die Qualen unerfüllter Leidenschaft. Um ihn zu warnen, erzählt der Spanier Don Mateo dem französischen Lebemann Andr� St�venol von seiner Liebe zu der blutjungen andalusischen Schönheit Conchita. Denn Conchita ist dieses "obskure Objekt der Begierde", das um so begehrenswerter wird, je mehr es sich seinem Verehrer entzieht. Don Mateo jedenfalls ruiniert sich beinahe seelisch wie auch finanziell, ohne daß Heilung in Sicht wäre. Bemerkenswert scheint mir mehr noch als der Liebeswahn des ständig genasführten Don Mateo die schwerer zu durchschauende Conchita, deren Motive offenkundig nicht allein darin bestehen, ihren Anbeter gehörig zu schröpfen. Doch meine Strategie, als Zeuge des Leidens anderer die eigene Situation erträglicher zu empfinden, schlägt fehl. Schon nach wenigen Kapiteln beginne ich, mich mit dem armen Don Mateo zu identifizieren und fühle Höllenqualen der Eifersucht, als Conchita, nur mit schwarzen Strümpfen bekleidet, vor zahlendem Publikum einen wilden Tanz aufführt. Die Wirkung von Literatur ist eben unberechenbar.
Am nächsten Morgen verzehre ich zum Frühstück kalte Ravioli und lese das biographische Nachwort der Manesse-Ausgabe. Aufgrund einer Fehldiagnose im festen Glauben, nur noch wenige Jahre zu leben zu haben, gibt der junge Pierre Louÿs innerhalb kürzester Zeit ein Vermögen aus, wird durch seine Romanerfolge wieder wohlhabend und ruiniert sich ab seinem dreißigsten Lebensjahr durch den Kauf teurer und seltener Bücher, die er achtzehn Jahre später teilweise wieder abstoßen muß, um Gläubiger zu besänftigen. "Seine Armut ist bedrückend geworden, aber er trägt sie mit Würde", heißt es im Nachwort, und ich schiebe mir beschämt eine weitere Teigtasche in den Mund.
Die Sonne scheint, das Zelt ist trocken, der Redaktionsschluß naht. Ich schenke die Dose Texaseintopf den beiden Teenagern im Nachbarzelt und packe meine Sachen zusammen. Bis zur Autobahn ist es nicht weit, und wenn rasch ein Wagen hält, kann ich bereits in einer Stunde zuhause vor dem Fernseher sitzen.

 

Pablo de Santis: Die Fakultät. Roman. Aus dem Spanischen von Claudia Wutke. 224 Seiten. Unionsverlag. Zürich 2002. € 16,80.

Susan Coll: karlmarx.com. Roman. Aus dem Amerikanischen von Volker Olderburg. 333 Seiten. Kindler. Berlin 2002. € 19,90.

Pierre Louÿs: Dieses obskure Objekt der Begierde / Aphrodite. Zwei Romane. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Vincenzo Orlando. 475 Seiten. Manesse. Zürich 2002. € 19,90.