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Jung und Jung
Peter Waterhouse
Hanser
Wilhelm Genazino
Synchron
Anja Hirsch

 
Fritz Müller-Zech 53
Die Kolumne
 

Ich wünschte, ich besäße eine Unterhose wie Til Schweiger sie gerne trägt. Neidisch betrachte ich die Anzeige in der ersten Ausgabe der deutschen Vanity Fair, die ich für einen Euro im Supermarkt erstanden habe. Allerdings wird sich, wenn diese Kolumne erscheint, vielleicht kaum jemand mehr an den Versuch erinnern, einmal pro Woche viele tausend Käufer für ein kiloschweres, stark bebildertes Anzeigenblatt mit Textbeigabe zu gewinnen.
Doch das tröstet mich nicht über die Tatsache hinweg, dass ich mit Slips im Fünferpack vorlieb nehmen muss, die nach zwei Waschgängen ihre Passform verlieren. Dabei könnte ich mir für den Preis des umfänglichen Buches, das seit Wochen auf meinem Schreibtisch liegt, wahrscheinlich zwei Paar der vom "deutschen Kirk Douglas", wie das Magazin der Süddeutschen Zeitung den Schauspieler taufte, beworbenen Unterhosen kaufen. Das Buch befand sich in einem Paket mit Neuerscheinungen, das mir die Redaktion dieser Literaturzeitschrift bereits im letzten November hat zukommen lassen. Es hat mich also nichts gekostet. Dafür erwartet man von mir, dass ich etwas Kritisches darüber schreibe. Das ist nun mal mein, manchem Germanistikstudenten erstrebenswert scheinendes Los. Aber dass das Privileg, seine Bibliothek mit kostenlosen Rezensionsexemplaren bestücken zu können, praktisch mit schlecht sitzender Unterwäsche erkauft ist, glaubt einem draußen niemand.
Jeden Tag nehme ich das dicke Buch und lese für eine halbe Stunde darin. Ich komme nur sehr langsam voran. Der Grund wird sein, dass der Autor keine Geschichte erzählt, sondern vor allem über Sprache meditiert. Er kann ein Wort so lange betrachten, bis es ganz fremd geworden ist. Manchmal vergleicht er ähnlich klingende Wörter aus verschiedenen Sprachen, dann wiederum geht es ihm um vermeintlich identische Bedeutungen unterschiedlicher Wörter. Der Autor ist in mehreren Sprachen zu Hause, wie man so sagt. Er übersetzt Lyriker wie Michael Hamburger und Andrea Zanzotto ins Deutsche, ohne wirklich an die Möglichkeit zu glauben, Gedichte von einer in eine andere Sprache zu übertragen. So durchziehen Zweifel und Faszination seinen Text. Denn immer wieder kann er erstaunt registrieren, was Sprache alles vermag. Oder eben nicht. In einem solchen Kosmos ist es auch gestattet, ein Kinderbuch von Christine Nöstlinger und ein historisches Sachbuch vergleichend auf die in ihnen dargestellten Welten zu untersuchen.
Das Buch wird mich noch lange beschäftigen, und es ist unwahrscheinlich, dass ich es für zwei Wäschestücke hergeben würde. Aber stimmt mich dieser Sieg des Geistes über die schnöde Materie fröhlicher? Ich schalte den Computer aus und gehe ein wenig in meiner teuer angemieteten Werkstatt umher. Gerne würde ich jetzt in Bausparunterlagen blättern.
Ich könnte mir zum Beispiel ausrechnen, wie hoch in diesem Jahr meine Wohnungsbauprämie ausfiele. Allein, ich besitze keinen Bausparvertrag, da ich die Zahlung der monatlichen Prämien nicht garantieren kann. Dass mich der Spott eines bekannten Literaturkritikers, in den Schriften Wilhelm Genazinos finde sich "Lebensphilosophie für Bausparer", gestern dazu bewog, den neuen Roman des von mir seit vielen Jahren geschätzten Autors zu kaufen, lässt allerdings auf ein latentes geistiges Bausparertum schließen. Denn die Zeiten, da ich keinen Tag zögerte, den jeweils neuesten Roman Genazinos zu erwerben, sind vorbei, seitdem sich das Feuilleton seiner bemächtigt hat. So sehr ich mich auch über seinen lang verdienten Erfolg freue, ich sehne mich ein wenig nach den Zeiten zurück, da man auch in literaturinteressierten Kreisen bei Nennung seines Namens oft nur ein Achselzucken erntete. Heute rächt sich meine verspätete Kaufentscheidung durch die ärgerliche Tatsache, dass es mir nicht mehr gelang, ein Exemplar der ersten Auflage von Mittelmäßiges Heimweh zu ergattern. Dabei war das Buch erst seit wenigen Wochen auf dem Markt. Dass mich dieser Umstand kränkte, ist ebenso peinlich wie das Gefühl, der verspätete Ruhm Genazinos sei ein persönlicher Verlust. Inzwischen ist mir klar: Es bedurfte des Appells an den Bausparer in mir, um mich wieder zur Vernunft kommen zu lassen. Lesen werde ich Mittelmäßiges Heimweh erst in einigen Wochen. Ich kann mir Zeit lassen, denn es handelt sich nicht um ein Rezensionsexemplar. Irgendetwas hat mich immer davon abgehalten, kostenlos an Bücher von Wilhelm Genazino gelangen zu wollen.
Inzwischen gibt es sogar eine germanistische Doktorarbeit über Genazinos Werk, in der ich auf ein interessantes Zitat aus seinem Roman Die Ausschweifung von 1981 stieß. Da ist nämlich von einem Tagesschausprecher namens "Horst Köpke" die Rede. Mir fiel ein, dass ich schon bei der damaligen Lektüre des Romans nicht sicher war, ob hier absichtlich der Vorname einer der berühmtesten Fernsehpersönlichkeiten der sechziger und siebziger Jahre falsch wiedergegeben wird. Schließlich wird Robert Lembke im selben Satz mit seinem richtigen Namen genannt. Warum also wird Köpke seines "Karl-Heinz" beraubt? Handelt es sich vielleicht schlicht um ein Versehen des Autors, das auch dem Lektor seines damaligen Verlages Rowohlt nicht aufgefallen ist? Und wird es vom Lektorat seines jetzigen Verlages Hanser bemerkt werden? Das sind Fragen, die gut unbeantwortet bleiben können. So schließt diese Kolumne einfach mit dem Originalzitat, das mir wie auf meine momentane Situation gemünzt scheint, obwohl die beiden Herren, von denen hier die Rede ist, schon lange tot sind: "Dann hatte er plötzlich den überraschenden Gedanken, dass er, Eckhard Fuchs, mindestens soviel Zeit hatte wie Robert Lembke oder Horst Köpke. Natürlich! Er musste sich nicht beeilen und er musste nichts erfinden."

 

Peter Waterhouse: (Krieg und Welt). 670 Seiten. Jung und Jung. Salzburg 2006. € 44,00.

Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh. Roman. 189 Seiten. Hanser. München 2007. € 17,90.

Anja Hirsch: "Schwebeglück der Literatur". Der Erzähler Wilhelm Genazino. 303 Seiten. Synchron. Heidelberg 2006. € 34,80.