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Manesse
Walter Serner
Zweitausendeins
Kunstmann
Eckhard Henscheid

 
Fritz Müller-Zech 54
Die Kolumne
 

Es war eine dunkle und stürmische Nacht. Zitternd stand ich vor dem Kaufland-Warenhaus am Berliner Platz und rauchte. In meiner linken Jackentasche steckte eine Schachtel Overstolz ohne Filter und in der rechten die neue Manesse-Ausgabe von Walter Serners wunderbarem Letzte Lockerung, Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen. Derart ausgerüstet hatte ich die Wärme meiner Werkstatt verlassen, um ein wenig Abwechslung in ein Leben zu bringen, das nur noch zwischen Bücherstapeln, halbfertigen Flugzeugmodellen und Sägespänen stattzufinden schien. Wenn es mir wenigstens gelingen wollte, all die Neuerscheinungen aus ihren Plastikhüllen zu befreien und meiner Kritikerpflicht genüge zu tun, wäre mein Seelenzustand ein besserer. Zumal ich befürchten musste, dass meine Leser der immer neuen Schilderungen einer sich nicht ändern wollenden Übellaunigkeit irgendwann überdrüssig werden würden. Da war der mysteriöse Anrufer gerade recht gekommen. Gegen Mitternacht sollte ich mich im Zentrum Oer-Erkenschwicks einfinden, man würde Kontakt mit mir aufnehmen. Eine fantastische Überraschung warte auf mich. Unter normalen Umständen hätte ich schon nach den ersten Worten den Hörer aufgelegt, doch an diesem Abend durfte ich keine Vorsicht walten lassen. Alles war besser, als weiterhin trübselig auf dem Sofa zu liegen und Schallplatten aus den siebziger Jahren zu hören. Entschlossen nahm ich Deep Purple in Rock vom Plattenteller, griff das Serner-Bändchen und die Zigarettenschachtel und machte mich auf den Weg.
Und nun stand ich hier und fror bitterlich. Kein Mensch war zu sehen. Auf der Zunge spürte ich Tabakkrümel. Ich warf den Rest der Zigarette weg, schluckte und zog Serners Ratgeber aus der Tasche. "Besuche niemanden in der Dämmerung" hieß es da unter der Nr. 466. Nun, die Zeit der Dämmerung war längst vorbei, vor einer Viertelstunde hatte es Zwölf geschlagen. Aber noch immer war ich allein. Und hatte Angst. "Es ist leichter, einem Verfolger zu entschlüpfen als der Verfolgung". Was mochte Serner nur damit meinen? Wenn jetzt ein paar finstere Buben auftauchen würden, um mir Gewalt anzutun, wäre ich völlig hilflos. Es begann zu regnen. Ich mochte nicht länger warten und machte mich auf den Heimweg.
An Schlaf war nicht zu denken. Vielleicht half jetzt ein Roman. Sanfte, beschauliche Prosa mit beruhigender Wirkung. Morgen würde ich mich dann an einer Rezension versuchen.
Ein Tablett mit Pfefferminztee und Schokoladenkeksen balancierend, öffnete ich die Tür zur Werkstatt mit dem Ellenbogen und hätte beinahe alles fallen gelassen. Wo sich vor einer Stunde noch zu Dutzenden die Bücher stapelten, gähnte nun Leere. Alle Rezensionsexemplare waren fort. Gestohlen. Ich war hereingelegt worden. Wie die Einbrecher in die Werkstatt hatten gelangen können, war mir ein Rätsel. Ich stellte das Tablett ab und rief die Polizei. Es könne dauern, bis ein Streifenwagen sich auf den Weg mache, teilte man mir mit. In dieser Nacht sei der Teufel los. Das Gefühl hatte ich auch. Also hieß es warten.
Neben dem Sofa lag ein Buch, das die Diebe offenbar übersehen hatten. auweia lautete der Titel dieses Infantilromans. Sein Verfasser Eckhard Henscheid war seit vielen Jahren einer meiner bevorzugten Autoren. Erst neulich hatte ich mit großem Vergnügen in einem voluminösen Band mit seinen gesammelten Literaturkritiken geblättert. Vor allem die Radio- und Zeitungsbeiträge aus den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in denen er sich ausnahmsweise nicht mit bekannter Verve seinen erklärten Vorlieben (Italo Svevo, Dostojewski, Ror Wolf, Kafka) oder Abneigungen (Luise Rinser, Heinrich Böll) widmete, waren mir eine Quelle der Freude, sah ich doch, wie man auch Brotarbeiten kenntnisreich und würdevoll verrichten kann. Da könnte mir Henscheid ein Vorbild sein, hätte ich denn etwas zum Rezensieren hier.
Das einzige mir verbliebene Buch, ausgerechnet sein kleiner neuer Roman, eignete sich leider kaum dazu. Denn dafür hätte ich es bis zur letzten Seite lesen müssen. Und das brachte ich selbst jetzt nicht über mich. Eckhard Henscheid hatte sich, als er die Geschichte der Tennisspielerin Heidi aufschrieb, ausschließlich beim schlimmsten Sprachmüll bedient. Gruselige Redewendungen, schauderhafte Verben und eklige Adjektive wurden virtuos zu einem Sprachkunstwerk zusammengefügt, das in der zeitgenössischen Literatur einzigartig dastand. Ob Dialog oder Erzählerrede, alles war auf fantastische Weise gleichermaßen widerwärtig. Gesteigert wurde der Effekt dieser Prosa noch, indem Henscheid sein Personal um Figuren aus einer Abteilung des sogenannten öffentlichen Lebens, die man am liebsten umgehend schließen würde, erweiterte. "Besonders laut wiehern da auf ein bestens gelaunter Roberto Blanco und sein Freund Dieter Bohlen, der also den Sprung über den großen Teich offenbar doch auch wieder geschafft hat."
Dieses Buch war ein Dokument des Leidens und definitiv große Kunst. Man konnte es betrachten und bewundern, doch lesen ließ es sich nur unter großen Schmerzen. Aber hatte nicht irgendjemand mal gesagt, dass wahre Kunst wehtun müsse? Darüber mir den Kopf zu zerbrechen, wollte mir in dieser Nacht nicht mehr gelingen, denn nun sah ich endlich einen Streifenwagen in den Hof einbiegen. Ich zündete mir eine Eckstein an und las noch einen letzten Serner-Ratschlag, bevor ich den Polizisten die Tür öffnete: "Geschichten erzähle nicht anderes als karikierend. Nur wenn du daran teilhast, gib zu verstehen, dass du sie nicht zu typisieren vermagst. Dann wird man dir vielleicht glauben."

 

Walter Serner: Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen. Herausgegeben von Andreas Puff-Trojan. Mit einem Nachwort von Georg M. Oswald. 290 Seiten. Manesse. Zürich 2007. € 17,90.

Eckhard Henscheid: Literaturkritik. Gesammelte Werke in Einzelausgaben Band 9. 936 Seiten. Zweitausendeins. Frankfurt am Main 2007. € 29,90.

Eckhard Henscheid: auweia. Ein Infantilroman. 126 Seiten. Kunstmann. München 2007. € 16,90.