Rezensionen

Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus
 

Aufzeichnungen
Marion Gay (Kortsteger)

Christine Lavant, die 1915 geborene Lyrikerin, u. a. mit dem österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet, schrieb ihre Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus 1946. Das Manuskript kreiste zwischen Verleger und Übersetzer, bis die Autorin es 1958 zurückzog, wohl aus Angst vor persönlichen Konsequenzen. Im letzten Jahr ist dieses Manuskript im Nachlaß der Übersetzerin wieder aufgetaucht und jetzt erstmals veröffentlicht worden. Zum Glück, denn diese Aufzeichnungen sind so beklemmend schlicht, die geschilderten Personen so real, daß ich mich während der Lektüre schon umsehe, ob da nicht Schwester Marianne mit der Zwangsjacke... Aber zur Handlung: 1930 geht eine junge Frau für sechs Wochen in ein österreichisches Irrenhaus. Freiwillig. Wegen einer unglücklichen Liebe läßt sie sich mit Arsen behandeln. In tagebuchähnlicher Form beschreibt sie das Anstaltsleben, am Anfang noch distanziert, als scheinbar einzige Normale, zumal sie ja sogar Kaffee bekommt. Nach und nach aber verschwimmen die Grenzen zwischen Wahnsinn und Normalität. Immer öfter ertappt sie sich bei abnormen Reaktionen. Verzweifelt bemüht sie sich um Freundschaft, aber den Erste-Klasse-Patienten, (die sogar mit Besteck essen dürfen!), ist sie nicht gebildet genug. Den Boshaftigkeiten und Launen der anderen ist sie völlig ausgeliefert, sie muß sich sogar in der Badewanne beglotzen lassen. Das Mädchen, das sie sich als Freundin wünscht, verschreckt sie mit ihren Gedichten. Und der Anstaltsleitung, die ihr anfänglich mit Wohlwollen begegnet, wird sie unheimlich - "'Sie will ja nur dichten.' sagte da die spitze Stimme vom Fenster her. Alle lachten, warum hätte ich nicht auch lachen sollen? ... 'Ja, meine Teure -', sagte da der Kleine, 'diese Gewohnheit wirst du dir freilich abgewöhnen müssen. Düchten mit Umlaut ü, gelt, wahrscheinlich kann sie nicht einmal ordentlich rechtschreiben, aber dichten will sie! Sehen Sie, Kollege, solche Geschichten kommen heraus, wenn jeder Bergarbeiter schon glaubt, seine Sprößlinge in Hauptschulen und so schicken zu müssen...'"
Mit jeder Seite wächst das Grauen. Am Ende zweifelt die Ich-Erzählerin selbst an ihrer mentalen Verfassung und entwickelt eine Idee, unter dem Motto, wenn ich schon hier bin, darf ich auch verrückt sein. Was dann allerdings einen anderen Verlauf nimmt als erhofft. Und so schreibt sie: "Morgen bin ich vielleicht schon auf Abteilung 'drei' und in der Zwangsjacke, wo man höchstens mit den Zehen schreiben kann, und deshalb schreibe ich es heute noch einmal und immer noch einmal: 'Ich liebe ihn, ich liebe ihn, ich liebe ihn!'"

 

Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus. 159 Seiten. Otto Müller. Salzburg/Wien 2001. € 15,00.