Am Erker 70

Sabine Haupt: Blaue Stunden

 
Rezensionen
Sabine Haupt: Blaue Stunden
 

875 Gramm
Pia Soldan

"Warum die Leiche am Ende verschwindet, habe ich nicht verstanden." Aber geht es hier wirklich um das Verstehen? Geht es in Sabine Haupts Erzählband Blaue Stunden nicht vielmehr um Eindrücke, die sich zu einer oder mehreren Wahrnehmungsperspektiven zusammensetzen? "Ich will, dass du staunst wie ein Kind", sagt nicht nur eine Figur zur anderen, sondern auch das Kollektiv der Erzählerinnen und Erzähler zum Leser dieser Geschichten.
Das "Unvordenkliche" scheint es zu sein, worum es hier geht, und was unvordenklich ist, kann nicht bis ins Letzte heuristisch aufgelöst werden. Umso größer erscheint Haupts Leistung, all diese fremdartigen Bilder ihrer Fantasie zu einem "ganzen dicken Paket Wirklichkeit" zu schnüren. Allerdings erscheint dieses Paket an einigen Stellen etwas zu dick. Legt man es auf die Waage, zeigt diese ganze 875 Gramm an. Doch nur selten lässt sich das Gewicht von Literatur in Gramm messen. Hätte Haupt auf einige wenige Geschichten verzichtet, die dieses Buch immer noch ein wenig kitschiger und perverser werden lassen, würde die Hand beim Lesen entlastet, das literarische Gewicht und die Kraft des Erzählens jedoch würde noch weiter gesteigert.
Denn Kraft hat dieser Band. Die Sprachgewalt in Haupts Geschichten trotzt jeder Macht des Kanons. Das Kapitel "Sehnsüchte und Fernwehen" erinnert an Juli Zehs Reisebeschreibung Die Stille ist ein Geräusch, wenn Haupt erfahrbar macht, "was in der Tiefe liegt", lässt sie an Fritz Lang denken, E.T.A. Hoffmann zeigt sich in menschlicher Konservierung, auch wenn sie bei Haupt nicht in Falun stattfindet. Doch während die Geschichten subtil all diese Assoziationen wecken, verlieren sie nie ihren ganz eigenen Ton.
"Nomenklaturen und andere Wortklaubereien", "Sehnsüchte und Fernwehen", "Anatomien und Leibesübungen" und "Moritaten und Wahnwitze" nennt Haupt die Kapitel, in die sie ihre Geschichten aufteilt. So offen diese Titel klingen, so schwer erscheint die Grenzziehung zwischen den Texten, denn ihre Vielfalt macht es eigentlich unmöglich, sie in Schubladen einzusortieren. Doch die "Liebe und der Hunger beginnen mit einer Grenzverletzung", weshalb das Gefühl gegenseitiger Anziehung sich wohl in Nomenklaturen, Sehnsüchten, Leibesübungen und Wahnwitz zeigt, während das Bedürfnis nach Nahrung sehr genau formuliert werden muss, wenn in der Fremde der Körper lechzt und zum Diebstahl verführt. So gut wie jede Geschichte für sich also dem jeweils gewählten Kapitel zugeordnet werden kann, so gut passt sie auch in alle anderen Themenbereiche. Wo endet die "Todes"-, wo beginnt die "Lebensangst"? Welche Farbe hat ein "blutig-blauer Himmel"? Und muss ich "immer meiner Meinung sein?"
"Mir war so wohlig ungenau" bei der Lektüre dieses Bandes. Er ist ein "Ort, wo Höhe und Tiefe keine Widersprüche bezeichneten", denn alles gehört zueinander in dauerhaftem Paradoxon. Gerade hieraus resultiert das Gewicht dieser Sammlung. So erscheint das zweite Kapitel an einigen Stellen etwas zu leicht in seiner seichten Verliebtheit und auch dem vierten Kapitel fehlt streckenweise das Gegengewicht zu seiner heftigen Sexualpathologie. Ein paar Seiten weniger würden das Paradoxiegewicht auch hier wiederherstellen. Denn schwer ist dieser Band und Gewicht hat er allemal.

 
Sabine Haupt: Blaue Stunden. Kleine Quadratur der Liebe. 525 Seiten. Offizin. Zürich 2015. € 24,80.