Texte
Am Erker 53, Münster, Mai 2007
 

Andreas Gößling
Körper öffnen, ein Frontfragment

Er war besessen von der Idee, Körper zu öffnen; sie nicht bloß zu penetrieren, sondern Durchlässe, Ein- und Ausschlüpfe zu schaffen: der Leib als Behausung, der Mensch als Herbarium - "wohlgemerkt, der lebende Körper auf dem Gipfel der Vitalität!" Selten konnte er einen solchen Körper ansehen, ohne ihn aufzukratzen, anzubohren, aufzubrechen, zumindest in Gedanken, in hochpräzisen Phantasmen: "Sexualität ist Sublimation", wie er zu dozieren pflegte (vor ganz und gar verständnislosen Jüngern); "Geschlechtsverkehr, zu Ende gedacht: die totale Penetration des Morastigen: allmähliches Hineinfaulen - besser gesagt: Zurückmodern - in den Erdmutterbauch!"
Die vielfältigen Praktiken, Körper zu öffnen, faszinierten ihn; aber die Idee betete er an: Wenn er an irgend etwas glaubte, bedingungslos glaubte, dann an das Aufbrechen der Körper, ja an die Heiligkeit dieses Prozesses, der für Carl Söllner "Teilhabe an der Schöpfung" war.
Vor dem ersten Weltkrieg unweit von Braunschweig geboren (zu Anfang eines Jahrhunderts, das wie kein zweites seine und seinesgleichen Ära werden sollte), hatte Söllner es früh schon verstanden, seine "Faszination zur Profession" zu machen: als Schlachtviehhändler, wenig später auch als Lederwarenfabrikant, der neue Techniken zur Häutung von Großvieh und zur Weiterverarbeitung von Häuten und Fellen entwickelte (aber das Aufbrechen der weichen, unförmigen Kuhleiber ekelte ihn bald schon an); später dann, in den dreißiger und frühen vierziger Jahren, als er sich von den Sturmwinden der Kriegsgier und der Rassenhysterie nach Osten wehen ließ; dabei waren ihm rassische Spitzfindigkeiten genauso gleichgültig wie militärische Strategien: Seine Faszination galt dem "lebendoffenen Menschenleib", den unerschöpflichen Möglichkeiten, Körper zu öffnen, sie anzufressen, aufzubrechen, Durchschlüpfe zu schaffen, Behausungen für Spinnen oder Lurche; wobei er im großen und ganzen Jungmannskörper bevorzugte (da die Weiber meist zu fett waren und die Knochen der Greise ihm wie Porzellan zwischen den Händen zersprangen), ihrer Geschmeidigkeit und Glätte halber sowie natürlich wegen ihrer Zähigkeit; denn nur die lebenden Körper zählten: "Wenn mir einer wegstirbt - früher, als es nach meiner Berechnung unvermeidlich war -, habe ich versagt!"
Carl Söllner (der tatsächlich unter diesem Namen zur Welt gekommen war und sich die bürgerliche Existenz immer offengehalten hatte "wie eine Hundehütte, in die man schwanzwedelnd zurückschlüpft, wenn der Wolf fürs erste sattgefressen ist") verstand sich in einem durchaus pathetischen, anspruchsvoll überhöhenden Sinn als Künstler, seine Arbeit am Leib als künstlerisches Wirken und die geöffneten, tiefsinnig manipulierten Körper als "Kunstwerke in romantischer, genauer gesagt, in schwarzromantischer Tradition. Höchste Erfüllung: der Tod! Auf ihn sollen wir hinarbeiten, ihn aber auch hinauszögern, wie es die Raffinesse - in der Kunst wie in der Liebe - gebietet!" Ganz im romantischen Sinn sah er die Natur als seine "Lehrmeisterin" an; ihr suchte er immer neue Kunstgriffe abzuschauen, von ihr wollte er "ein Leben lang in Demut die Kunst des Körperöffnens lernen".
Folgerichtig entzückten ihn Wunden aller Art, eitrige Entzündungen, nässende Pustelnester, offene Amputationsstümpfe oder Geschwüre: Für ihn waren es "Pforten ins Paradies", und es beseligte ihn, "mit einem Finger, mit mehreren Fingern, mit der ganzen Hand hineinzugehen, bis zur Handwurzel, bis zum Ellbogen, weiter, weiter"; häufig stellte er sich vor, wie er selbst "kopfüber, zur Gänze, in einen genügend großen, gebresthaft geöffneten Körper" hineinfuhr. Als Hilfssanitäter hatte Söllner in den zwanziger Jahren unter dem Namen Heinrich Porstner kurzzeitig in Lazaretten gearbeitet, in denen die hunderterlei Schuß- und Bruch-, Stich- und Platzwunden, Früchte der damals verbreiteten Banden-, Saal- und Straßenschlachten, behelfsmäßig behandelt wurden. Dabei war der junge Söllner auf das Phänomen der "großflächigen Dauerwundheit" gestoßen, "die bei sich hinziehender Bettlägerigkeit im Verein mit zurückgeschraubter Sauberkeit aufblüht". Die Entdeckung dieser großflächigen Dauerwundheit betrachtete er selbst als seinen "Durchbruch in der romantischen Wissenschaft des Körperöffnens" (wobei ihm der Doppelsinn des Wortes Durchbruch keineswegs entging). Ein lebender Körper, unbeweglich auf geeigneten Untergrund gebettet, begann "im Stande totaler Vitalität anzufaulen, ist gleich: sich diskret zu öffnen"; das war fabelhaft: "Vom Nacken über die Schulterpartie, die gesamte Hinterfront bis hinunter zu beiden Waden" konnten sich derlei diskrete Körperöffnungen erstrecken, wenn der Körper nur hinreichend fixiert wurde und der gewählte Untergrund genügend "fäulnisaktiv" war.
Mit Schweiß und Fäkalien getränkte Lazarettlaken wiesen hierbei den richtigen Weg; aber derlei Halbherzigkeiten waren Söllners Sache nicht; er verwarf auch sie als "hasenhafte Sublimation" und begann noch in den zwanziger Jahren mit "gärigen Untergründen" zu arbeiten, wenn auch nicht mehr im Lazarett, da er "aus unerfindlichem Grunde" schon nach wenigen Monaten aus dem Sanitätsdienst entfernt worden war.
Ende März 1938 übertrat er zum ersten Mal "die Schwelle der romantischen Bräuhalle zu Steglitz", wo ihn beim Anblick der kolossalen, schimmelgrün korrodierten Kupfertröge sogleich sein "persönliches, vielmehr: überpersönliches Heureka" ereilte: In diesen gegen vier Meter hohen Kesseln, in denen noch während der zwanziger Jahre Lagerbier der Marke "Graf zu Steglitz" gebraut worden war, hatte sich seither eine "hochfaszinierende Lebens-, das heißt: Fäulniskultur" gebildet; ein schwarzbrauner Morast, stark gärig riechend, in den Söllner bis zu den Knien einsank, nachdem er höchstpersönlich mit Hilfe einer Leiter "in dieses Vorzimmer des Paradieses" hinabgestiegen war. Es handelte sich um eine Mischung aus Biermaischeüberresten, Sandstaub, zerfallenen Kleintierkadavern und Regenwasser, das durch Leckstellen im Dach der alten Bräuhalle platschte; in diesem offenkundig "hochaktiven Urzeitschlamm" hatten sich verschiedene Populationen angesiedelt, Schwanzlurche, Aaskäfer, Würmer sowie achtäugige Wolfsspinnen, die an den höher gelegenen, sukzessive verkarstenden Krustenrändern auf der Lauer lagen.
Es war der ideale Untergrund, warm, feucht und fäulnisaktiv, und Söllner (der sich für seine "Wolfsjahre im Osten" den Namen "Hagen Görsmann" zugelegt hatte) ließ bald schon "geeignetes Lebendgut" herbeischaffen und im Morast der Brautröge "unbeweglich fixieren, zum Zwecke der Herbeiführung und des Studiums der großflächigen Dauerwundheit", wie er in seinem "romantischen Tag- und Nachtbuch" notierte.
"Die Ergebnisse übertreffen meine kühnsten Erwartungen: rotbrandige Flächenwunden über die ganze Rückpartie schon nach 72 Stunden; rapide Zersetzung der Hautschichten; darunter das Fleisch: mehlfarben mit rosa Schlieren, in milchigen Blasen aufquellend; Milben, Maden u.s.f. unter Lupe bereits sichtbar aktiv. - Geruch: Boviste im ersten Stadium der Fäulnis; drücke meine Nase ins brandige Fleisch, das sich mit nachgiebigem Schmatzlaut öffnet. - Temperatur des Körpers: 39,5°, verflucht!"
Die großflächige Wundheit voranzutreiben und gleichzeitig das "Feuer der Entzündung" unter Kontrolle zu halten, betrachtete Söllner Ende der dreißiger Jahre als "größte Herausforderung meines Lebens". Er ordnete an, daß einer der Kupfertröge ("meine gärige Wunderwaffe!") mitsamt seinem glucksenden und quappenden Inhalt in den Hinterraum der alten Bräuhalle geschafft wurde, den er durch eine Feuertür verrammeln ließ. Zugleich schickte er seine Schwarzrockhorde auf die "Jagd nach mageren, annähernd ausgewachsenen Körpern - man bleibe mir nur vom Leib mit dem milchkalbzarten Kindskrimskrams: das stirbt einem ja beim kleinsten Schwupps unter den Händen weg!"