Am Erker 68

 
Texte
Am Erker 68, Münster, Dezember 2014
 

Katharina Bendixen
Däumelinchen

Ich habe mir so lange ein Kind gewünscht, heute habe ich endlich eins gefunden. Aus einem Abrisshaus hörte ich sein Schreien, ich stieg über die alten Treppen nach oben und entdeckte es in einem Raum, der - nach den Umrissen auf den Tapeten zu urteilen - einst das Wohnzimmer gewesen war. Das Kind lag auf dem Fensterbrett, ich fand es nicht sofort, so klein war es. Vorsichtig trug ich es zu meiner Wohnung. Ich passte auf, dass die Kinder, die im Hof einen kleinen Teich anlegen, nichts sahen. Ich bettete es in eine Butterdose, dort schläft es nun. Wenn ich von der Arbeit komme, gebe ich ihm einen Kuss auf den Bauch. Es saugt Milch von meinem kleinen Finger. Bald wird es Brei essen, auf Flohmärkten halte ich schon nach Puppengeschirr Ausschau.

Aber bald beginnt mein Kind zu krabbeln, zu laufen, zu sprechen. Immer häufiger muss ich es abends, wenn ich von der Arbeit komme, in der ganzen Wohnung suchen, und es passiert, dass es Fragen stellt. "Warum bin ich so klein", will es wissen und wird wütend, wenn ich mit den Schultern zucke. Es versteckt sich hinter meinen Büchern oder in einer Tablettenschachtel, bis der Hunger es hervortreibt. Als ich das Kind mehrere Wochen nicht sehe, weiß ich, dass ich es verloren habe. Nach der Arbeit gehe ich in das Abrisshaus, aber ich kann kein neues Kind finden. Es ist wieder still in meiner Wohnung, bis auf die Rufe der Kinder, die sich unten im Hof Anweisungen geben.

Aber einmal küsse ich mein Kind versehentlich zu fest. Als ich den Kopf wieder hebe, atmet es nicht mehr. Zuerst will ich den Notarzt rufen, aber eigentlich sehe ich, dass hier niemand mehr helfen kann. Nachts trage ich das Kind auf den Hof und schaufele mit bloßen Händen eine Grube. Hoffentlich graben die Kinder es bei ihren Spielen nicht aus.

Aber dann lerne ich einen Mann kennen, der sich für mein Kind interessiert. Bei seinem zweiten oder dritten Besuch entdeckt er es, nimmt es aus der Butterdose, wiegt es in der Hand. "Es isst nur von meinem Finger", sage ich, aber das stimmt nicht. Kaum streckt der Mann seinen kleinen Finger aus, saugt das Kind schon daran. Immer häufiger küsst er, wenn er mich besucht, zuerst das Kind. Er will es sogar mit ins Bett nehmen, aber das lasse ich nicht zu: Unter unseren Decken könnte es ersticken. Eines Abends, als ich von der Arbeit komme, ist das Kind fort, und da weiß ich, dass auch der Mann nicht mehr kommen wird. Ich treffe ihn nie wieder, nicht einmal in dem Kino, in das wir manchmal gingen. Dreimal schaue ich den Film über die größten Seen der Welt.

Aber dann treffe ich eine Schulkameradin, die ich lange nicht gesehen habe. Sie schiebt einen Kinderwagen, obwohl sie beim letzten Klassentreffen noch überzeugt war, niemals Kinder zu bekommen. Wir gehen ein Stück gemeinsam, sie erzählt von der Geburt, ich erzähle von meinem Kind. "Du hast dir schon immer viel ausgedacht", sagt sie und lacht, und als ich nach Hause komme, sehe ich, sie hat Recht. Die Butterdose steht wie immer im Schrank, und in der Wohnung ist es still. Nur auf dem Hof lärmen die Kinder.

Aber dann lerne ich einen Mann kennen, dem mein Kind nicht gefällt. Er legt sich in mein Bett und erzählt von seinen früheren Freundinnen, dann schläft er mit mir. Morgens, als ich das Kind füttere, sagt er: "Was willst du damit? Du hast doch jetzt mich." Noch vor der Arbeit gehe ich zum Abrisshaus und lege das Kind aufs Fensterbrett. Doch es dauert nicht lange, bis mich erst die früheren Freundinnen und dann der Mann nicht mehr interessieren. Ich warte, dass er es von allein merkt. Als er für immer geht, eile ich zum Abrisshaus, aber das Kind finde ich nicht. Niemand besucht mich mehr. Nur einmal klingelt eines der Kinder aus dem Hof bei mir: Ob ich eine Gießkanne hätte, die es sich für ein paar Tage leihen könne.

Aber einmal vergesse ich, das Fenster zu schließen, und als ich von der Arbeit komme, ist das Kind verschwunden. Wahrscheinlich hat die Kröte aus dem Teich im Hof es geraubt, um ihren Krötensohn zu vermählen. Ich stelle mir die Abenteuer vor, die das Kind in der Welt erlebt. Es könnte sich mit einem Maikäfer anfreunden, und es ist nicht ausgeschlossen, dass es bei einer Feldmaus Unterschlupf findet. Am schönsten finde ich die Vorstellung, dass es in einer Blüte auf seinen Märchenprinzen stößt. Jeden Morgen male ich mir aus, dass ich draußen in der Welt ein Kind habe und dass es glücklich ist, glücklicher, als es bei mir geworden wäre.