Am Erker 70

 

 
Texte
Am Erker 70, Münster, Dezember 2015
 

Andrea Schaumlöffel
32. Immer noch.

32. Immer noch. Immer noch 32. Anderthalb Jahre schon. Schon seit anderthalb Jahren bin ich 32. Und das nur, weil es im März in den West Highlands regnet.
Dabei wurde so viel Aufwand für meinen 33. betrieben. Aber der Wanderweg des Lebens ist unberechenbar, heimtückisch geradezu an manchen Stellen und wundersam verschlungen mit seinen vielen Kreuzungen, Gabelungen und Abzweigungen. Und manchmal ertrinkt und verschlammt er in den Wassermassen eines West Highland'schen Märzunwetters, man kommt vom Weg ab, und dann gibt es eben keinen 33. Mir soll's recht sein. Aber zugegeben, die Idee, die David hatte, war gut: Natürlich ist er gewohnheitsmäßig davon ausgegangen, dass ich dieses Jahr 33 werde, so wie ich all die Jahre davor jeden März ein Jahr älter wurde, und deshalb buchte er uns als besonderes Geschenk einen Hin- und Rückflug nach Schottland. Er weiß, dass er weder mit Blumensträußen noch mit Konsumgütern bei mir anzukommen braucht, sondern dass ich nur dann richtig glücklich bin, wenn ich eines darf: wandern. Ich liebe einfach alles am Wandern: die reine Luft, erfrischender als jedes grelle Zuckergetränk, die Sinfonie der Natur in glasklarem Dolby Surround, die Bildqualität der Landschaft, besser als jeder HD-Blockbuster, dazu eine Duftkomposition aus fruchtbarem Waldboden und warmen Felsen in der Sonne und der Geschmack von wilden Himbeeren auf der Zunge - das ist für mich Glück. David weiß das.
Also fliegen wir in einer stickigen Maschine auf die Insel. Zum Wandern.
Am Vorabend meines 33. sind wir seit zwei Tagen auf dem West Highland Way und schon ziemlich weit gewandert. Wir erreichen Loch Lomond, den größten aller schottischen Lochs, und er funkelt wie ein goldsplittriges Juwel in der kalten Sonne. Am Ufer schlagen wir das kleine, dunkelgrüne Zelt auf. David mümmelt sich sofort in seinen Schlafsack und schläft erschöpft ein. Ich setze mich ans Ufer auf einen sonnenwarmen Stein, blicke auf die Weite des Sees und die Hügelketten am Horizont mit ihren schneebedeckten Spitzen, lausche der Stille und dem Glucksen und Schlucken der seichten Wellen gegen die Baumstämme. Hin und wieder gehen ein paar Spaziergänger auf dem Wanderweg vorbei, aber die stören mich nicht. Eine Schar Gimpel hat sich hier breitgemacht, raschelt ums Zelt herum durchs Laub, hofft auf Essbares von den Menschenfreunden. Es ist still und friedlich, der perfekte Ort zum Meditieren.
Gegen Abend mache ich eine kleine Serie von Fotoaufnahmen vom Sonnenuntergang. Oh, it's just a perfect day, denke ich, wieso kann ich nicht heute Geburtstag haben? Ich koche Reis mit Tofuwürstchen auf dem klapprigen Campingkocher. David wacht auf, um etwas zu essen, dann schlafen wir beide ein.
Am nächsten Morgen werde ich um halb acht wach, öffne den Reißverschluss des Zelts und schlage den Eingangsbereich auf. Ein unglaubliches Panorama bietet sich mir. Der frühmorgendliche See liegt friedlich da, und die Sonne geht über den Hügeln auf. Tiefe Stille herrscht. Es ist wunderschön. So schön war die Welt noch nie nach dem Aufwachen, besonders nicht an diesem Tag im März. Bald packen wir zusammen und wandern weiter. Unser Trinkwasser ist alle und der Wasserhahn am Klohaus des nahegelegenen, doch geschlossenen Campingplatzes ist noch abgedreht. Angeblich soll es innerhalb der nächsten zwei Tagesmärsche keinerlei Zivilisation auf dem West Highland Way geben. Wir sind gespannt, wie es weitergeht, und lassen es auf uns zukommen. Und siehe da - nach nicht allzu langer Strecke entdecken wir einen Parkplatz mit einem Klohaus und ein, zwei kleinen Hotels drumherum. Die befestigte Straße hat hier ihren Endpunkt; nur ein schmaler, ein wenig zugewucherter Wanderpfad führt ab hier weiter in die Highlands hinein. An einem Wasserhahn füllen wir unsere Trinkflaschen auf und spülen Geschirr. Da passiert es plötzlich: Regen. Es fängt an zu gießen und hört nicht auf. Und wir so mitten in der Pampa. Was bleibt uns übrig als weiterzulaufen? Also laufen wir weiter. Biegen in den kleinen Wanderpfad ein. Lassen den letzten Rest Zivilisation hinter uns.
Der Loch Lomond ist außergewöhnlich voll, was man daran erkennt, dass sehr viele Bäume bis zum Hals unter Wasser stehen, auch ziemlich weit entfernte. Ich schätze, dass der Wasserspiegel normalerweise einen bis anderthalb Meter tiefer liegt. Kein Wunder, es regnet ja auch die ganze Zeit. Kleine Bächlein strömen von den Bergen ringsum in den See. Es regnet und regnet. Meine Klamotten werden nass. Meine uralte, kreischgelbe Regenjacke ist fürn Arsch. Es regnet immer weiter und immer stärker. Unermüdlich gehen wir weiter und wissen bald nicht mehr so recht, was wir machen sollen. Aber es gibt keine andere Möglichkeit, als den Wanderweg weiterzugehen, denn weit und breit befinden sich weder Straßen noch Häuser; es gibt nur die Highlands und mittendrin diesen einen Weg. Es schüttet wie aus Eimern. Irgendwann kann und will ich den großen Pfützen im Schlamm nicht mehr ausweichen; meine Schuhe sind sowieso komplett durchnässt, bei jedem Schritt schwappt das Wasser zwischen meinen Zehen. Ich pflüge einfach durch die knöcheltiefen Pfützen durch. Wir sprechen nicht mehr, jeder ist für sich, wir funktionieren nur noch. Wir wandern weiter ohne Pause. Rückenschmerzen, Fußschmerzen, Kälte, nasse Kleidung, schwere Rucksäcke, Hunger. Es besteht keinerlei Chance, irgendwo Pause zu machen, denn rechts von uns ragen zerklüftete Felswände in den Himmel, und links von uns fällt eine Schlucht in die Tiefe und endet am Seeufer. Wir befinden uns also auf einer Gratwanderung im Nirgendwo. Und das bei strömendem Regen und Temperaturen um den Gefrierpunkt. Ich bin mir sicher, dass der Wanderweg heute gesperrt wäre, wenn es ein Park Ranger bei dem Wetter hierher geschafft hätte, um ihn abzusperren. Der Weg ist total schlammig und rutschig, es gibt kein Geländer zum Festhalten, keine Sitzbänke, nichts. Und vor allem keine Hoffnung darauf, dass der Regen aufhört, und auch keine Aussicht auf Zivilisation innerhalb der nächsten zwei Tage. Es ging mir noch nie so mies wie heute. Wir gehen unter Schmerzen weiter, man kann ja nur weitergehen. Zwischendurch fällt mir kurz ein, dass ich heute Geburtstag habe. Dann vergesse ich es wieder. Alles tut mir weh. Von Gehen kann kaum mehr die Rede sein, wir schleppen uns voran, klettern über die Felsen, zwängen uns mit den Rucksäcken zwischen Bäumen hindurch, rutschen den Weg entlang über Schlamm und nasses Moos. Es gibt keine entzückenden kleinen Bächlein mehr, die gen See plätschern. Stattdessen stürzen alle paar Minuten meterbreite Wassermassen in die Tiefe. Hier wird dann auch ganz deutlich, dass der Weg für eine andere Witterung als die heutige gedacht ist: Es gibt keine Brücken über die Wasserfälle. Rechts von uns tost das Wasser aus den Bergen hinunter auf den Boden direkt neben uns und rauscht als reißender Strom quer über den Wanderweg, um zu unserer Linken in der Schlucht im Nirgendwo zu verschwinden. Wir bleiben vor dieser Naturgewalt stehen und schweigen. Wozu auch reden? Das Donnern des Wasserfalls ist zu laut. Und was überhaupt noch sagen? Es gibt ja nichts zu sagen. Ich bin kurz vorm Verzweifeln. Wir müssen durch das wild gewordene Wasser durch. Aber es ist tief, die Kraft gewaltig, der Boden am Grund rutschig und felsig, man kann sich nirgendwo festhalten. Am Rande der Erschöpfung, mit zehn Kilo schweren Rucksäcken. Was, wenn einer von uns sich den Knöchel verstaucht? Der Handy-Akku ist doch seit gestern leer. Und was, wenn einer von uns es einfach nicht schafft, vom Wasser mitgerissen wird und zwanzig Meter tiefer auf das Seeufer aufschlägt? Ich bekomme Angst und bin verzweifelt. Aber es gibt nur diese eine Option, wir müssen weitergehen oder eben den ganzen Weg zurücklaufen. Wir gehen durch das Wasser. Die Füße finden Halt. Wir stemmen uns gegen die brachiale Gewalt. Wie durch ein Wunder schaffen wir beide es, insgesamt vier dieser Wassermassen unbeschadet zu durchqueren. Ich kann es kaum glauben. Aber meine Schuhe sind nun bis zum Rand mit eiskaltem Bergwasser gefüllt. Wir sind seit vier Stunden ununterbrochen unterwegs mit dem schweren Gepäck, den unerträglichen Rücken-, Bein- und Fußschmerzen, dem Hunger, der Eiseskälte und natürlich dem nicht enden wollenden Regen.
Wie durch ein zweites Wunder steht da plötzlich ein Schild in der Wildnis herum, das uns sagt, dass wir in vier Kilometern beim Inversnaid Hotel ankommen. Ein Hotel! Zwar bezweifle ich, dass ich die vier Kilometer noch schaffen kann, aber es bleibt mir nichts anderes übrig. Wir klettern weiter durch das Unwetter, obwohl wir nicht mehr können.
Nach einer unendlich lang erscheinenden Zeitspanne, vielleicht zwei Stunden, taucht das Hotel in unserem Blickfeld auf. Wir haben es tatsächlich geschafft! Nach sechs Stunden ununterbrochenem Laufen. Völlig erschöpft betreten wir das riesige Haus. Und befinden uns in einer Parallelwelt.
Überall Goldverzierungen, wuchtige Bilder an den Wänden, gedämpftes Licht, ein edler, bordeauxroter Teppich. Ich fühlte mich noch nie so fehl am Platz wie hier. Wir stehen herum und trauen uns nicht rein. Zu unseren Füßen sammelt sich eine Pfütze. Es stinkt nach Geld. Leute gehen vorbei und gucken uns an. Eine adrette Rezeptionistin kommt lächelnd auf uns zu, sagt, dass wir uns in der Bar ausruhen dürfen, und führt uns dorthin. Die Bar ist ein großer Raum mit dunklem Holztresen, noch mehr bordeauxrotem Teppich und eleganten Sitzgrüppchen mit Polsterbezügen. Ich setze mich zaghaft auf einen gepolsterten Stuhl, David tut es mir gleich. Wir bestellen einen Tee und einen Orangensaft. Beides wird uns auf einem blitzenden Silbertablett serviert. Kunstvolle Eiswürfelchen klirren im Saft. Unsere Kleidung ist so nass, als hätten wir im Loch Lomond gebadet. Die Bar ist unbeheizt, im Gegenteil, ich höre und spüre eine Klimaanlage, die mir direkt in den Rücken bläst. Ich friere erbärmlich und muss durchweg unkontrolliert zittern. Noch nie, nie, nie fühlte ich mich so erbärmlich wie jetzt, während um mich herum ältere Herren in sportlicher Freizeitkleidung an ihrem Glas Wein sitzen und auf ihre Laptops starren. Gedämpfte Unterhaltungen. Mir ist so kalt. Eine Frau geht beschwingt an uns vorbei und sagt fröhlich: "You guys are wet ... wet ... wet!" Ich möchte ihr sehr, sehr wehtun. Stattdessen sitze ich da als kleines Häufchen Elend und zittere. In der Damentoilette leere ich einen meiner Wanderschuhe aus, aber meine Finger sind so kalt und gefühllos, dass ich den tropfnassen Schuh nur mit Mühe wieder über meinen tropfnassen Fuß in der tropfnassen Socke ziehen und zubinden kann. Deshalb erspare ich es mir, den zweiten Schuh auszuleeren. Der Handtrockner im Bad pustet immer nur drei Sekunden, und auch nur todeshauchkalte Luft statt warmer. Keine Chance, dass der mich wärmt oder trocknet. Bleibt mir nur übrig, zu unserem eleganten Sitzgrüppchen zurückzukehren und mich auf den inzwischen ebenfalls komplett durchnässten, wahrscheinlich ruinierten Polsterstuhl zu setzen.
David fragt die nette Rezeptionsfrau, was denn eine Übernachtung hier koste. 45 Pfund pro Person. Ja nee, is klar. Wir sind verzweifelt. Ob es denn Busse oder so gebe, mit denen man hier wegkomme? Nein, keine Busse. Kein Wegkommen. Das Ganze hat ein bisschen was von The Shining, es ist wie in einem billigen Albtraum.
Doch halt, fällt es da der netten Rezeptionistin ein, um Viertel nach vier kommt ja immer die Fähre, die einen ans andere Ufer des Sees bringt, und von da fahren übrigens Fernbusse nach Glasgow. Was? Woohooo! Wir trauen unseren Ohren kaum. Discordia hat uns erhört und eilt uns zu Hülf! Nun müssen wir nur knapp zwei Stunden in diesem bitterkalten, versnobten Raum totschlagen und auf die Fähre warten. David lädt sein Handy auf und benutzt heimlich das WLAN. Im Internet steht, dass die Fähre aber erst wieder ab Ende März fährt, und es ist doch erst Mitte März. Panik macht sich breit; wir fragen sicherheitshalber nochmal nach. Doch doch, sagt der genervte, unfreundliche Kollege der netten Rezeptionistin, die Fähre wird heute fahren. Wir warten, ich friere und zittere, die Klimaanlage pustet mich an.
Endlich ist es viertel nach vier. Wir nehmen unsere Sachen, bezahlen den Tee und den O-Saft (erstaunlich günstig) und verabschieden uns von dem unfreundlichen Typen. Ich frage mich, ob sie die beiden Stühle direkt wegschmeißen oder zumindest zum Trocknen wegstellen oder ob sie die einfach stehenlassen und sich am Abend irgendein Snob mit dem Hosenboden draufsetzt und sich dann beim Personal beschwert. Ich bin garstig und hoffe auf Letzteres. Leider werde ich es nie erfahren.
Die gute Nachricht: Draußen hat es aufgehört zu regnen! Die schlechte Nachricht: Es ist draußen noch sehr viel kälter und windiger als in der Bar. Ich friere und friere und bin immer noch komplett durchnässt. Ich kann das Zittern nicht kontrollieren, obwohl ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, da David schier umkommt vor Sorge um mich. Sein einziger Lebensinhalt besteht in diesen Minuten darin, mich ins Warme, Trockene zu bringen. Ich liebe ihn.
Tatsächlich kommt auch bald die kleine Personenfähre angetuckert. So'n Butterdampfer sozusagen. Sie spuckt eine erkleckliche Anzahl Rentner aus, die sogleich ihre Kameras zücken und den monströsen Wasserfall gleich neben dem Hotel fotografieren. Eine ziemlich alte Dame packt sich direkt vor mir auf die Fresse, und eine Schar Senioren rennt auf sie zu, um ihr aufzuhelfen. Ich hebe ihre Handtasche auf, David ihren Gehstock. Sie scheinen alle ohne uns zurechtzukommen, also steigen wir ins Boot und schippern rüber auf die glorreiche andere Seite des Sees.
Die Überfahrt dauert nur wenige Minuten (und kostet so viel wie eine Fahrt mit dem Fernbus), dann sind wir da. Die nächste Horde Senioren wartet schon mit scharrenden Hufen auf dem Steg und möchte unbedingt rüber zum Hotel. Warum auch immer. Die Frau, die die Fährtickets verkauft hat, sagt uns, dass wir erst in den Ort Tarbet gehen müssen, um mit dem Bus nach Glasgow zu fahren. Okay. Machen wir. Obwohl wir keinen blassen Schimmer haben, wie weit es bis Tarbet ist. Wir laufen los.
An dieser Seite des Sees führt genau eine Schnellstraße am Ufer des Loch Lomond entlang, und die latschen wir kalt, matt, müde und hungrig runter. Kein Gehweg, nix. Nur halsbrecherisch heizende Autos trotz sehr kurviger Strecke. Hinzu kommen die vielen sehr großen, sehr tiefen Pfützen, durch die die Autos fahren und deren Spritzwasser wir auszuweichen versuchen. Die meisten Autofahrer sind aber so vorausschauend und sozial, dass sie abbremsen, wenn sie sehen, wie wir uns von der Pfütze wegducken und uns zusammenknüllen. Die meisten lachen, winken und fahren ganz langsam an uns vorbei. Trampen wollen wir trotzdem nicht; wir haben keine Lust auf Konversation und auch nicht darauf, jemandes Autositze zu ruinieren. Also gehen wir weiter. Nach etwa einer Stunde kommen wir an einer Eisdiele vorbei, vor der ein Mann saubermacht. Er unterbricht seine Arbeit, kommt auf uns zu und gibt uns den Tipp, dass hinter der Eisdiele ein Wanderweg verläuft, der in den Ort führt. Der sei sicherer zu gehen als auf der Straße. Das mag ich übrigens an den Briten: Sie schaffen es immer, etwas sprachlich so hinzudrehen, dass der Angesprochene einen großen Vorteil für sich daraus ziehen kann. In Deutschland wären wir sicherlich angemosert worden, dass wir die armen Autofahrer gefährden oder so was, und ob wir denn lebensmüde seien. Egal, jedenfalls danken wir dem freundlichen Typen für den Hinweis und latschen den Wanderweg entlang, der so wirkt, als sei er für den Sonntagsspaziergang von Familien ausgelegt. Jedenfalls ist er gut ausgebaut und überhaupt nicht mit dem West Horror Way auf der anderen Seeseite vergleichbar.
Immer noch vor Kälte zitternd erreichen wir Tarbet. Es ist 18 Uhr. Wir sind heute seit insgesamt zehn Stunden unterwegs. Der Ort ist sehr klein. Eine Bushaltestelle sagt, dass der nächste Bus in zwei Stunden kommt, um viertel nach acht. Wir laufen etwas weiter, weil es hier auch einen Bahnhof gibt, und hoffen auf eine Zugverbindung nach irgendwo. Auf halber Strecke entdecken wir noch eine Bushaltestelle, an der laut Aushang sogar drei Buslinien halten sollen, die alle nach Glasgow fahren. Die nächste um 19:52 Uhr. Wir beschließen zu warten. Bei drei Buslinien ist die Chance schließlich größer, dass überhaupt ein Bus aufkreuzt. Es wird dunkel. Die Temperaturen fallen, es ist wieder um die null Grad. Meine Schuhe sind voll Eiswasser. Seit nunmehr zwölf Stunden. Ich zittere immer heftiger. Ich schaffe es nicht mehr zu sprechen. Wenn ich etwas sagen will, kann ich mich nicht artikulieren. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie kalt es ist, wenn man seit zwölf Stunden in triefend nasser Kleidung und Schuhen herumläuft. Nein, man kann es sich nicht vorstellen.
David läuft zum Bahnhof und erfährt dort, dass da Baustelle ist und irgendwie auch nichts fährt. Er kommt zurück zur Bushaltestelle. Noch eine Stunde Warten. Ich habe das Gefühl, dass ich es nicht schaffe. Dass ich gleich zusammenklappe. Ich bin extrem unterkühlt. David macht sich große Sorgen um mich, er zieht mir die Schuhe aus, rubbelt mir die Füße mit einem Handtuch ab und versucht, sie zu wärmen. Er wärmt Wasser mit dem Gaskocher auf und gießt es mir über die Füße, dadurch wird es etwas besser. Aber sobald ich die Socken und Schuhe wieder anziehe, fühlt es sich an wie vorher. Endlich rückt die Zeit des Busses heran ... und verstreicht. Kein Bus. Wir verzweifeln. Es wird immer kälter, mein ganzer Körper zittert ununterbrochen heftig. Da plötzlich taucht ein Bus am Horizont auf. "Glasgow" steht dran. Ganz in britischer Manier stellen wir uns gut sichtbar an den Straßenrand und heben den Arm - das Zeichen hierzulande, dass man mitfahren will, und der Bus hält an ...
"This is not a bus stop", sagt der Fahrer zu uns. Deswegen waren die ausgehängten Fahrpläne also von 2008. Weil die Haltestelle gar nicht mehr bedient wird. Trotzdem nimmt er uns mit, dieser Gesandte des Himmels.
Im Bus ist es warm. Ich setze mich zivilisiert auf mein Handtuch, ziehe die Schuhe aus und presse meine Füße an die vielen kleinen Heizungsschlitze in der Fahrzeugwand. Warme Luft. Alles wird gut. Meine Füße tauen auf. Meine Zehen kribbeln. Wir fahren eine Stunde bis Glasgow.
Dort angekommen, müssen wir noch ein Stück durch die Innenstadt gehen, bis wir zu dem Hostel kommen, das David uns rausgesucht hat, als er im Hotel Inversnaid das WLAN klaute. Es ist das günstigste Hostel, das er finden konnte, aber dort angekommen, wird uns ein höherer Preis berechnet als erwartet, weshalb wir nur eine Nacht dort buchen. Hauptsache, erst mal raus aus der Nässe und der Kälte. Morgen sehen wir weiter. Alles wird gut!
Unser Zimmer liegt im sechsten Stock und hat eine Dusche. Unter eben jene schleppe ich mich sofort mit letzter Kraft, nachdem ich mich Schicht um Schicht von meinen nassen Klamotten befreit habe. Das Wasser rieselt nur zaghaft, so richtig Druck hat der Duschkopf nicht, und es wird auch nur mäßig warm statt heiß. Trotzdem ist es eine absolute Wohltat für mich. Ich dusche sehr, sehr lange und wärme mich langsam wieder auf. David hängt währenddessen all unsere Klamotten überall im Zimmer auf, um sie zu trocknen. Es gibt nur einen ganz winzigen Heizungsschlitz in der Fensterbank, in die die Heizung eingebaut ist. Wir können die Heizung nicht mal regulieren. Dieses Hostel hat seltsame Prioritäten. Statt des allgegenwärtigen Wasserkochers mit Teebeuteln und einer benutzbaren Heizung gibt es einen Fernseher und zwei (!) Spiegel an der Wand. Was soll ich damit? Anscheinend gehören wir nicht zur Zielgruppe. An jeder erdenklichen Stelle hängen klatschnasse Hosen, Pullis, Unterhosen, Socken, Shirts in diesem zellenartigen Raum - auf dem Stuhl, dem kleinen Schreibtisch, dem Bettgestell, selbst über dem Klorollenhalter und dem blöden Fernseher an der Wand.
Nach dem Duschen krieche ich ins Bett und schlafe sofort ein. David bleibt noch wach und sucht nach günstigen Hostels in Edinburgh, denn dort gefällt es uns bei weitem besser als in Glasgow, und wir wollen morgen dorthin zurückfahren. Glasgow ist uns gerade zu hektisch, zu laut und zu groß. Nach den Strapazen. Wir wollen lieber in eine schöne Stadt, wenn wir schon das Wandern sein lassen.
Um ein Uhr nachts werde ich wieder wach. Ich stelle fest, dass die Wände anscheinend dünn wie Papier sind. Aus dem Nachbarzimmer dröhnt der Fernseher so laut, als liefe unser eigener. Freudig entsinne ich mich aber der beiden Ohropax-Stöpsel, die ich sicherheitshalber eingepackt habe, und stopfe sie mir in die Gehörgänge. Der Fernseher ist jetzt zwar immer noch gedämpft zu hören, aber leise genug, um einzuschlafen und den Rülpswettbewerb im Nachbarzimmer zu verpassen, von dem David mir am nächsten Morgen erzählt. Wir gehören definitiv nicht zur Zielgruppe dieses Etablissements. Kurz bevor ich einschlafe, fällt mir nochmal ein, dass ja heute mein Geburtstag gewesen ist. Ich beschließe, ihn dieses Jahr ausfallen zu lassen. Das war einer der schlimmsten Tage meines Lebens. Dieses Jahr habe ich keinen Geburtstag. Ich bin einfach weiter 32. Immer noch.

 

Andrea Schaumlöffel, *1982, lebt in Dortmund. Sie studierte Literaturwissenschaft und Anglistik in Bochum, ließ sich danach auf das Experiment einer vornehmlich geldfreien Lebensweise ein, widmet sich seitdem ausschließlich dem Schreiben, dem Reisen und der Selbsterfahrung und bloggt ihre Erlebnisse unter penniless-traveller.de.