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Alfred Döblin
Verlag Ulrich Keicher
Hans Dieter Schäfer
 
Essays
Aus dem Exil
Alfred Döblins Schicksalsreise
Gernot Wolz
 

Die Schicksalsreise beginnt mit einer Radiomeldung. Alfred Döblin hört sie und erstarrt. Der Autor von Berlin Alexanderplatz lebt seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten mit seiner Familie in Frankreich, hat als deutscher Jude die französische Staatsbürgerschaft erworben und ist neben Thomas Mann der berühmteste literarische Emigrant. Die bevorstehende Niederlage der Franzosen bedeutet für ihn in den kommenden Monaten einen Kampf auf Leben und Tod.
Das Herzstück dieser autobiographischen Schrift ist die Flucht aus Paris durch Frankreich bis zur Überfahrt von Lissabon aus ins rettende US-Exil. Döblin schildert seine Flucht nicht nur "wegen ihres historischen Charakters, sondern um das Auffällige, Eigentümliche, Unheimliche festzuhalten." Vor allem aber um der inneren Veränderungen willen, durch die er eine neue, lebensverändernde Einsicht erlangen wird.
Noch in Paris muss er sich von Frau und Kind trennen, die er in eine abseitige Provinzstadt schickt, während er selbst an der Evakuierung seiner Behörde, des Informationsministeriums, teilnimmt. Anfangs verläuft alles noch geordnet. Mit dem auf einen Koffer geschrumpften Besitz schleppt er sich zu einem Güterbahnhof, wo das Ministerium in kläglichen Personenwagen nach Tours gebracht wird. Das Gesetz des Handelns geht währenddessen allmählich verloren, er wird zum Getriebenen: "Es war uns aber zugedacht, bald den Zuschauerplatz zu verlassen und selber in die Arena herabzusteigen." Auf Personenzug und noch halbwegs organisierte Übernachtungen in Hotels und Schulgebäuden folgt das Chaos in Viehwaggons, ohne Kenntnis des Reiseziels, ohne regelmäßige Verpflegung, und das Vegetieren in überfüllten Flüchtlingslagern. Diese Perspektive von unten behält er bei: "Jetzt waren wir Masse. Es war der erste Schritt in der Verwandlung." Bald verlässt er seinen dienstlichen Trupp, riskiert alles, um sich auf einer Irrfahrt durch das kollabierende Frankreich und durch Kontrollen übereifriger Polizisten, die den gebürtigen Preußen für einen Spion halten, zu seiner Familie durchzuschlagen. Doch diese hat kurz zuvor ihren Zufluchtsort verlassen. Dabei - Ironie des Schicksals - hatten sich ihre Wege unwissend gekreuzt. Döblin gräbt sich auf diese Nachricht hin für Wochen in einem Flüchtlingslager ein, wo er sich in das "Innere Frankreichs" wie ein Robinson verschlagen sieht. Dort empfindet er den "imaginären Charakter" der Reise, sie "verlief zugleich an mir, mit mir und über mir." Auch wenn er sich nachts mit Schlaftabletten betäubt - "Jede Stunde, um die ich die Zeit betrüge, ist gewonnen" -, auch wenn er sich als Mediziner Unterernährung und krankhafte Abschnürung bescheinigt, kann er andererseits dieser Extrem-Existenz für sein wahres Menschsein etwas abgewinnen, denn: "Bequemlichkeit und Alltagsroutine ersticken in uns, was lebendig ist und leben will." Zufälle deutet er als Winke, unterschiebt den Ereignissen einen tieferen Sinn, sieht sie als eine Reise zu sich selbst. Sein Leben lässt er Revue passieren, und auf einer Bank in einer Kathedrale sitzend, beim Blick auf das große Kruzifix, erkennt er sich: "Ich reiste mit leichtem Gepäck. Ich wusste früher nicht, wie leicht es war... Der ganze Umbau um einen Menschen, der ihn sonst über sich hinwegtäuscht, ist nun weggeblasen. Nackt wie Robinson liege ich am Strand." Oder er bemüht das Bild des christlichen Asketen in der Wüste, wo das im Alltag verschüttete innere Leben freigesetzt werden kann. Der Aufenthalt im Barackenlager hat in Döblin etwas aufgeschlossen, aber es ist erst der Beginn, was in den USA mit der katholischen Taufe der ganzen Familie den inneren Abschluss seiner Schicksalsreise "zwischen Himmel und Erde" finden wird. Am 10. Juli kommt er mit Frau und Kind in Toulouse wieder zusammen.
Aber jetzt häufen sich die dramatischen Szenen, jeden Moment kann ihre Flucht noch scheitern. Die Pässe müssen verlängert werden, dann brauchen sie zusätzlich eine militärische Genehmigung zur Ausreise: In der Kommandantur erfahren sie, dass laut Bestimmung des Waffenstillstands Frankreich die Exilierten auszuliefern hat, wenn der Sieger es verlangt. Das wäre das Ende gewesen. Döblin resigniert, doch seine Frau attackiert die sich auf ihre Befehle berufenden Offiziere, konfrontiert sie mit ihrer Situation und beschämt so deren Ehrenkodex. "So besiegt war man nicht, dass man sich verriet"; und sie händigen ihnen - ein Akt des Widerstands - die Genehmigungen aus. Von ähnlicher Dramatik ist das Ringen um die amerikanischen Visa, die Schiffskarten und das Auftreiben des Reisegelds von einem Fremden. Dass sie all diese scheinbar unüberwindlichen Hindernisse als Mittellose schafften, kann sich Döblin nur als göttliche Fügung erklären. Damit endet das erste, gewichtigste Buch der Schicksalsreise, von Döblin gleich nach der Ankunft in Hollywood verfasst. Es ist hinreißend erzählt: die körperlichen Strapazen, die naturalistische Schilderung des Transports im Viehwagen, die Eintönigkeit im Flüchtlingslager, die kafkaesken Situationen durch eine überforderte Bürokratie, die inneren Kämpfe zwischen Depression und religiöser Erweckung. Das alles ist kunstvoll verknüpft mit einer multiperspektivischen Erzählweise: des Ich-Erzählers über die Wirrungen der Reise, des psychisch verstörten Flüchtlings, der distanzierten, ironischen Analyse des Mediziners Döblin und der Sicht des religiösen Mystikers.
Das wesentlich kürzere zweite Buch beschreibt den Aufenthalt in den USA, das dritte seine ersten Jahre im Nachkriegsdeutschland. An Amerika schätzt er, dass "Atheismus ... nicht obligatorisch für Gebildete und für Politiker wie in Europa" ist, doch fasst er dort vor allem wirtschaftlich nicht Fuß, lebt in einem "luftleeren Raum". Daher lockt ihn 1945 sofort der Ruf eines Freundes, in die französische Zone als Kulturberater zu kommen und an der Umerziehung der Deutschen mitzuwirken. Dabei überschätzt er seine Wirkungsmöglichkeiten.
"Die deutsche Mentalität, jetzt nicht mehr nazistisch verkleidet, erwies sich als tief heidnisch verseucht." Döblin findet die Deutschen nach der Naziära unfähig, sich mit der Katastrophe auseinanderzusetzen, und attestiert ihnen einen Zustand geistiger Nivellierung. Seine literarischen Werke stoßen auf Ablehnung. In den Deutschlandkapiteln der Schicksalsreise zitiert er Verrisse, die ihm vorhalten, dass er "als Denker vor der Mystik kapitulierte", ein Vorwurf, der sich gegenüber diesem Buch wiederholen wird. Doch Döblin hat, gerade weil er sich den neuen Gesellschaftstheorien und literarischen Moden verweigert, einen unversperrten Blick auf die Nachkriegsrealität. In diesem Spiegel wollen sich die Deutschen damals aber nicht erkennen. Sie ignorieren dieses Buch nicht nur 1949 bei seinem Erscheinen - es verkauft sich schlecht, nur 1500 Exemplare in den ersten Jahren -, sondern sogar bis in die Nachschlagewerke und die Literaturgeschichten hinein, teilweise bis heute.
Hans Dieter Schäfer, der Döblins Scheitern in Deutschland nach 1945 essayistisch aufgearbeitet hat und die Schicksalsreise als das bedeutendste Werk der vierziger Jahre bezeichnet, verweist auf den psychologischen Hintergrund: "Döblin erkannte, dass die Deutschen durch Rituale und eine wohlfeile rhetorische Schuldübernahme ihre Lebensläufe abstrahierten und sich das Trauern um die ganz private Schuld vom Leib rückten. Wohnte im Land vorher das größte Herrenvolk, hatte es jetzt mit Auschwitz das schrecklichste Verbrechen aller Zeiten begangen - immer noch schwadronierte man in Superlativen. Das Lesepublikum nahm Döblin übel, dass er klagte und persönliche Tatsachen ernster als allgemeine Worte und abstrakte Formen nahm."
Daher die Ressentiments gegen seine Person. Sie verstärken sich noch dadurch, dass er als Kulturoffizier in der Uniform der französischen Besatzer auftritt, dass zwei seiner Söhne im Krieg in der französischen Armee gekämpft haben. 1933 vertrieben als Berliner Jude, muss er nun bei seiner Rückkehr als katholischer Franzose von neuem in Deutschland seine "trostlose Isolierung" erfahren.
Mit diesem letzten Schicksalsschlag kommt Döblin nicht zurecht, er erkrankt und emigriert am 29. April 1953 zum zweiten Mal nach Frankreich.

 

Alfred Döblin: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis. 520 Seiten. DTV. München 1996. € 19,94.
Hans Dieter Schäfer: Rückkehr ohne Ankunft. Alfred Döblin in Deutschland, 1945-1957. 44 Seiten. Ulrich Keicher. Warmbronn 2006. € 12,00.