Am Erker 59

Monika Maron: 'Flugasche'

Monika Maron: 'Bitterfelder Bogen'

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Monika Maron
Roman 'Flugasche'
Bitterfelder Bogen

 
Essays
Denk ich an Bitterfeld
Steffen Roye
 

Es gibt ein Sprichwort, dessen Sinn sich heute nur noch schlecht erschließt: "Seh'n wir uns nicht in dieser Welt, so seh'n wir uns in Bitterfeld." Ludwig Bechstein führte 1853 ein Märchen in seinem Deutschen Sagenbuch, in dem ein Zauberer mit diesen Worten spurlos verschwindet. In Bitterfeld kreuzten sich die Handelsstraßen Dessau-Leipzig und Berlin-Halle, und Fuhrleute wie Messereisende gebrauchten das geflügelte Wort wohl lange vor 1853.
Heute freilich verbindet man Bitterfeld nicht mit heimeligen Sagen, sondern mit Umweltverschmutzung, auch wenn dieser Ruf kaum mehr gerechtfertigt ist. Drei riesige Fabriken wucherten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Bitterfeld und Wolfen wie Geschwüre der prosperierenden Braunkohlen-Tagebaue: Das Chemiekombinat Bitterfeld (CKB) stellte alles Mögliche von Weichspülern bis Insektiziden her, die Farbenfabrik und die Filmfabrik ORWO gehörten einst zur IG Farben.
Eine, die sich in Bitterfeld umgesehen hat, ist Monika Maron. Sie tat es erstmals Mitte der 70er Jahre, als die Schlote noch rauchten. Und sie bereicherte das Wende-Jubiläumsjahr um eine Facette, indem sie für eine Reportage nach dreißig Jahren zurückkehrte.
Ein Anlass, mich selbst zu erinnern. Ich stamme aus dieser Gegend. In Wolfen habe ich mein Abitur abgelegt, damals noch auf der Erweiterten Oberschule. Wie so viele bin auch ich danach weggegangen aus meinem Dorf, von dem aus man die Schornsteine der Filmfabrik rauchen sehen konnte. Weil ich mein Berufsleben nicht mit der Bedienung einer Abrissbirne beginnen wollte. Meine Heimat ist es trotzdem geblieben. Das haftet einem an wie Fischgeruch. Die Eltern haben ein Haus dort.
Denk ich an Bitterfeld in der Nacht ... dann fällt mir vor allem die Parsevalstraße zwischen Wolfen und Bitterfeld ein. In einer anderen Zeit war sie eingezwängt zwischen dem Chemiekombinat zur Rechten und der Farbenfabrik zur Linken, autonomen Städten mit Straßenlabyrinthen, Backsteinmonstren und tropfenden Röhren, die hierhin und dorthin abzweigten, endlosen Leitungen für Öl, Gas oder chemische Zwischenprodukte. Die Straße hieß im Volksmund 'Straße der tausend Düfte', und nichts konnte es besser treffen: Fuhr man mit dem Fahrrad dort entlang, stank es alle zehn Meter anders nach Gift und Chemie. Und mir fällt die Säure-Kreuzung ein, an der ein Riesenschornstein orangefarbene Schwaden in die Luft blies, vermutlich Schwefelsäure. Ich denke an Weihnachtsmärchen im Kulturpalast, mitten im Industriegebiet; und an den Silbersee, in dem nach einem Schatz zu suchen den Gang in die ewigen Jagdgründe bedeutete und von dem man spitzzüngig behauptete, dass man darin ohne weiteres seine belichteten ORWO-Filme entwickeln konnte. Der See war eingezäunt, man sah von der Straße aus die Baumgerippe am und im Wasser. Und ich erinnere mich an eine Geschichte meines Cousins: Ende der 80er ließ er - widerrechtlich, versteht sich - das Grundwasser analysieren, das wir alle tranken. Der Laborant zeigte sich bei der Auswertung erstaunt: "Bei diesem Nitratwert müssten Sie eigentlich tot sein."

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Monika Maron hat ähnliche Eindrücke in ihrem Debütroman Flugasche verarbeitet. "Und diese Dünste, die als Wegweiser dienen könnten", heißt es bei ihr, "bitte gehen Sie geradeaus bis zum Ammoniak, dann links bis zur Salpetersäure. Wenn Sie einen stechenden Schmerz in Hals und Bronchien verspüren, kehren Sie um und rufen den Arzt, das war dann Schwefeldioxyd."
Es ist diese unfassbar maßlose Umweltzerstörung, die die Hauptfigur Josefa Nadler in den 70er Jahren in Rage bringt. Sie soll für ein Berliner Wochenmagazin eine nette Reportage über "B." abliefern. Doch die Erschütterung über Industrieanlagen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, über die 180 Tonnen Flugasche, die das Kraftwerk täglich über die Stadt schneit, lassen sie das austarierte Taktgefühl vergessen, diese Balance zwischen Schnauzehalten und Sticheln, die einen Zeitungsartikel für die Zensoren gerade noch akzeptabel macht. Sie beschreibt die Dinge, wie sie sind. Die Reportage erscheint nicht, in der Redaktion muss sie zum Spießrutenlauf antreten, sie kündigt schließlich. An das "echte" Kraftwerk erinnere ich mich nicht; die Siedlung allerdings, die dort Spalier stand, ertrinkt heute in steigendem Grundwasser, das früher künstlich niedergehalten wurde, als man nebenan noch Braunkohle förderte.

Josefa Nadler ist unverkennbar das Alter Ego von Monika Maron. Ihre Wochenpost-Reportagen über B. werden damals gedruckt: "Nicht gelogen, aber auch nicht wahr", beschreibt sie das Dilemma im Roman. Das Unwohlsein bleibt, Mitschuld zu tragen aus Unüberlegtheit, weil man "synthetische Pullover braucht oder eine bestimmte Art von Fliegentöter". Der Roman ist die Untersuchung der Möglichkeit, sich dem sozialistischen Gang zu verweigern ("Sie wollte richtig verstanden werden", nennt sie es), eine Konfrontation, die auch bei Maron zunächst nur im Kopf stattfindet. So erwägt sie als Josefa, zwei Versionen der Geschichte zu schreiben, eine wahre und eine druckbare. Und sie thematisiert die Selbstzensur, die Schere im Kopf, mit der der Realitätssinn herumschnippelt: "Es ist nur ein kurzer Weg von undruckbar zu undenkbar, ... dazwischen liegt nur unaussprechlich."
Das Buch durfte in der DDR (trotz zweier Versuche 1978 und 1988) so wenig erscheinen wie Josefas Reportage. Es erschien 1981 bei S. Fischer in Frankfurt/Main, was Maron in der DDR einigen Ärger einbrachte. Es mag Zufall sein, dass seit 1982 in der DDR alle Umweltdaten streng geheimgehalten wurden. Das Buch jedenfalls wurde ein Erfolg; bis heute gibt es Nachauflagen.
Das Angenehme an ihrem Roman ist, dass Maron beim Erzählen nicht den Zeigefinger hebt. Sie platziert ihn auf der Wunde, bitter und humorvoll, in einem Buch letzter Wahrheiten, das sich auch heute noch erstaunlich frisch liest und keine DDR-Folklore ist, sondern auch ein Roman über Emanzipation und den unbedingten Willen zur Individualität in einem System der Nivellierung.

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Die Wochenpost wurde 2002 eingestellt, doch Monika Maron schlägt 2009 ihren persönlichen Bitterfelder Bogen und gibt dem so entstandenen Buch den entsprechenden Titel. Das ist zweideutig wie vieles in Marons Texten: Der Bitterfelder Bogen ist auch das neue Wahrzeichen der Stadt, eine Stahlkonstruktion in Form einer Baggerschaufel, die seit der EXPO weithin sichtbar aufragt und sich zu einer Touristenattraktion entwickelt, hat man von dem Kunstwerk doch einen weiten Blick ins Land. Blühende Landschaften freilich, die ein satter Kanzler einst versprach, betrachtet man am besten, wenn man erneut die Parsevalstraße entlangfährt. Viel Heideland zwischen den verbliebenen Betrieben. Tausende, die Jahrzehnte in den Werken gearbeitet hatten, durften in Auffanggesellschaften den ganzen Moloch einebnen, mit einem Aufwand von 850 Millionen Mark - eine Zahl, so unfassbar wie die 180 Tonnen Flugasche. Innerhalb von drei Jahren sank die Luftverschmutzung in der Region um 92 Prozent. Dank Bitterfeld posieren bundesdeutsche Repräsentanten heute klimapolitisch auf hohen Rössern: Der Zusammenbruch der Industrie im Osten sorgt dafür, ambitionierte Klimaziele zu schaffen, da diese auf den Werten von 1990 basieren, als die Schlote noch qualmten. Als ich das Buch zum Anlass nehme, nach Jahren wieder nach Bitterfeld hineinzufahren, geht es mir wie der Autorin: Die Straßen sind ganz anders. Nicht nur ihre Beschaffenheit, auch ihr Verlauf. Nach 1989 wurde die Region neu vermessen, von den Straßenbauern neu durchpflügt. Ich will ins Zentrum der Chemie und fahre prompt daran vorbei.
Was sich bei meinem Besuch bestätigt: Die Straße der tausend Düfte verströmt immer noch Gerüche, wenn auch nicht mehr so aggressiv. Heute riecht es hier nach Silage, dort nach feuchter Pappe. Jeder kann in der Parsevalstraße entdecken, was er will: Die einen werden die Großzügigkeit und Weitschweifigkeit des Geländes loben, andere werden schmerzlich die Lücken zur Kenntnis nehmen.
Monika Maron schaut sich auch auf dem Bitterfelder Bogen um, doch ihr neues Buch beschreibt vor allem, wie sie nach dreißig Jahren wieder an die Dinge und die Leute herangeht. Sie porträtiert Menschen, die hier geblieben sind. Oder hierher kamen.
"Die Vorstellung, ein Montagmorgen im Jahr 2000 könnte einem beliebigen Montag dieses Jahres gleichen, war unheimlich", heißt es in Flugasche. Bitterfelder Bogen ist auch die Selbstversicherung, dass diese Vorstellung nicht Realität geworden ist.

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Mit Klischees ist es so eine Sache. Etwas Wahres ist immer dran, aber oft überlebt sich ein Klischee und bleibt doch in den Köpfen kleben. Bitterfeld ist so ein Klischee. Wer von denen, die noch nie hier waren, würde vermuten, dass die Stadt an einen riesigen See mit Yachthafen grenzt, an ausgedehnte Wälder; dass Braunkohlen-Bagger als 'LandArt' konserviert wurden und heute als Kulisse für Konzerte von Björk bis Theodorakis dienen; dass es in unmittelbarer Nachbarschaft - von Maron leider unerwähnt gelassen - eines der europaweit seltenen Buchdörfer gibt, einen historischen Ortskern, der praktisch in jeder Scheune ein Antiquariat beherbergt? Aus der Ferne bin ich selbst immer wieder überrascht, welchen kulturellen und geschichtlichen Reichtum die Region zu bieten hat. Die Himmelsscheibe von Nebra wurde in der Nähe gefunden, Wörlitz ist nur der bedeutendste Park eines ganzen Weltkulturerbe-Gartenreichs und auch nicht weit entfernt. Sommerfrische Bitterfeld also? Neue Chemiebetriebe gibt es jedenfalls kaum. Nur etwa 5 Prozent der Neuansiedlungen nach 1990 verdienen ihr Geld mit Chemie: Das Stigma haftet an. Warum fällt auch mir zu Bitterfeld zuerst Umweltverschmutzung ein? Vielleicht war es die vermeintlich sichere Distanz des Heimatdorfs, die mich abgrenzt: Der Dreck wehte meist nicht in unsere Richtung. So baute sich jeder sein Ausredenhaus. Und: Auch ich erlebte die Veränderungen nach der Wende nurmehr als Tourist.
Bei meinem Besuch erklimme auch ich den Bitterfelder Bogen. Es ist November, ich bin allein, nur der Wind ist zu hören und die Geräusche einer mittagsschläfrigen Stadt: ein Zug am nahen Bahnhof, ein Dachdecker, der einsam die Stellung hält und Nägel in Dachbalken treibt. 127 Meter über Null, und in dieser Gegend fühlt man sich wie auf einem echten Berg. Bis nach Leipzig und Leuna geht der Blick, bis zum Petersberg - der anderen Landmarke in der Region, archaischer, mythischer - und streift über endlose Taiga, die ich früher nie wahrgenommen habe, wohl, weil das Gebiet Tagebau-Sperrzone war und beim Vorbeifahren pflichtschuldig weggeblendet wurde.
Das andere Klischee ist die Unvereinbarkeit von Ost und West. Was sich aber heute in Bitterfeld-Wolfen abspielt, was sich in zwei oder drei Jahrzehnten als next big thing erwiesen haben könnte, hat seine Ursprünge eigentlich im Westberlin der 80er Jahre. Auch dorthin schlägt Maron ihren Bitterfelder Bogen: zu Reiner Lemoine und seinem Ingenieurbüro Wuseltronik. Ohne es zu ahnen, drehten Lemoine & Co. am ganz großen Rad, als sie zur Jahrtausendwende in Thalheim bei Wolfen einen Ableger mit geplanten vierzig Mitarbeitern gründeten. Der wuchs der Muttergesellschaft bald über den Kopf: Keine zehn Jahre später hat er 2.700 Mitarbeiter und wurde in besseren Börsenzeiten mit einem Wert von neun Milliarden Euro taxiert. Die Rede ist von 'Q-Cells', dem Weltmarktführer für Solarzellen. "Q steht für Qualität."
Die Dreckschleuder Europas steigt wie Phönix aus der Flugasche und reüssiert ausgerechnet mit Umwelttechnologie - die Wirklichkeit beweist einen doppelbödigen Humor, der auch aus Monika Marons Feder stammen könnte.
Und weil so viele Hoffnungen auf dem Unternehmen ruhen, stehen Lemoine & Co. folgerichtig im Mittelpunkt der Reportage. "Scheiß auf den Kommerz. Lass uns was Richtiges machen." Dieser Ausspruch des 2006 verstorbenen Lemoine markiert den Aufbruch und zieht sich als Leitsatz durch das ganze Buch.
Auffällig, dass im Unterschied zur Wut des Romans in der Reportage ein wohlwollender, fast optimistischer Grundton gewählt wird, auch wenn Platz für Melancholisches bleibt, wenn etwa die guten alten Zeiten bei Wuseltronik betrauert werden, wenn bedauert wird, dass beim zwangsläufigen Expandieren der Idealismus und das Familiäre der Unternehmung auf der Strecke blieben zugunsten der Beschäftigung mit Renditen und KGVs.
Besonders interessant ist Marons Bericht, wenn sie sich wieder dem Kleinen widmet, wenn sie bei den Ingenieuren oder bei einer Buchhändlerin am Küchentisch sitzt und wie in ihrem Debütroman in knappen Worten ganze Biographien skizziert und ohne Larmoyanz die Verwerfungen der Wende aufzeigt. Diese Verwerfungen ließen Einheimische oft in Krater stürzen, die sich unvermittelt auftaten. Für einige Mitarbeiter des CKB gab es zum Beispiel eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme im eigentlichen Sinne des Wortes, bei der Verwaltungsangestellte für ein Jahr in einer fiktiven Firma beschäftigt waren, die lediglich so tat, als ob sie etwas tat. Kostenkalkulation, Buchführung, Rechnungslegung - alles ohne realen Hintergrund. Die Leute waren wenigstens weg von der Straße.
Doch Monika Maron will dieses deprimierende Bild, dieses Bild vom Investitionsgrab Ost, ein wenig korrigieren; deshalb bei allem Problembewusstsein wohl der optimistische Tenor. "Ich war nicht auf der Suche nach dem Elend", sagte sie in einem Interview. Sie besucht Leute, die nicht aufgegeben und ihren neuen Platz gefunden haben. Es sind Anekdoten wie die von Uwe Schmorl, die das Buch lesenswert machen. Zu DDR-Zeiten hätte man Schmorl vielleicht einen "Aktivisten der ersten Stunde" genannt. Als er bei Q-Cells anfängt, sind dort keine zehn Mitarbeiter beschäftigt. "Zum Vorstellungsgespräch fuhr er mit seiner Frau. In Kreuzberg haben sie lange nach einem Restaurant mit deutscher Küche gesucht und am Ende beim Türken gegessen." Zwei Sätze, die knapp die Orientierungslosigkeit Ostdeutscher nach dem Mauerfall skizzieren. Erfolgsgeschichte hin oder her - wohnen will hier keiner (ich auch nicht mehr). Wer sich die Fotos des Buches anschaut, kann das verstehen: Zu trist wirken die meisten Ecken noch immer. Außerdem ist Bitterfeld nicht Berlin; auch das quirligste Vereinsleben kann diese Urbanität nicht herstellen. Anfang der 90er fuhren wir mehr als fünfzig Kilometer weit, um auf der grünen Wiese in Günthersdorf (!) ins Multiplex-Kino zu gehen und bei McDonald's die neue ars vivendi kennenzulernen. McDonald's erwies sich als ein Geschwür der neuen Zeit, längst gibt es auch in Bitterfeld und Wolfen Filialen, und charmanter ist gerade das Neubauviertel Wolfen-Nord dadurch nicht geworden. Die Satellitenstadt mit ihren Sechsgeschossern wird radikal zurückgebaut (vulgo: abgerissen), um dem Leerstand etwas entgegenhalten zu können. Schade darum ist es nicht. Die Fotos ihres Sohnes Jonas illustrieren also nicht nur, sie konterkarieren Marons Beobachtungen zugleich. In hellen Farben und mit wenig Kontrast, meist in der kalten Jahreszeit aufgenommen, wird gezeigt, dass auch die Zeugnisse des Erfolgs Patina ansetzen müssen, dass eine Landschaft (nach-) wachsen muss, ehe sie heimelig wird, auch wenn sie Heimat ist und bleibt.

 
Monika Maron: Flugasche. Roman. 248 Seiten. S. Fischer. Frankfurt a. M. 2007 (erstmals 1981). € 8,95.
Monika Maron: Bitterfelder Bogen. Ein Bericht. Mit Fotografien von Jonas Maron. 173 Seiten. S. Fischer. Frankfurt a. M. 2009. € 18,95.