"Und dann habe ich dem Journalisten einfach 
                seinen Spickzettel aus der Hand genommen und weggeworfen." 
                Der Dichter lachte laut. Schon immer hatte er sich am besten über 
                seine eigenen Witze amüsieren können. Und die Geschichte 
                von dem Literaturjournalisten, den er gezwungen hatte, vorab eine 
                Fragenliste einzureichen, um diese dann mit großer Geste 
                in den Papierkorb zu befördern, war tatsächlich lustig. 
                Der Dichter hasste Homestorys allein aus dem Grund, weil er kein 
                richtiges Zuhause hatte. Keine Bibliothek, in der man sich vor 
                überfüllten Regalen ablichten lassen konnte, und auch 
                keinen Fitnessraum, um seine Fertigkeiten am Punchingball zu demonstrieren. 
                Nein, er musste den zu lyrischen Ergüssen neigenden Kritiker 
                in der Wohnung seiner Freundin empfangen. Zum Glück hatte 
                er wenigstens den Briefwechsel mit seinem Verleger dabei, der 
                ihn persönlich lektorierte, dessen Korrekturen er aber regelmäßig 
                in den Wind schlug. Der Dichter war nämlich ein Starautor. 
                Oder besser, er war vor langer Zeit ein Starautor gewesen und 
                zehrte noch immer von seinem damals erworbenen Ruhm. Das Lebensgefühl 
                einer ganzen Generation hatte er in seinen Gedichten ausgedrückt. 
                Leider waren seine damaligen Leser mit ihm gealtert, ohne ihm 
                die Treue zu halten. Zum Glück stand sein Verleger zu ihm. 
                Nur wie lange noch? 
                Ich hatte den Dichter in den siebziger Jahren kennen gelernt. 
                Seine damalige Freundin, eine Studentin der Sozialpädagogik, 
                bewohnte ein Zimmer in der Wohngemeinschaft, die mir für 
                zwei verbummelte Semester Unterschlupf gewährte, nachdem 
                meine vorherigen Mitbewohner mich wegen politischer Differenzen 
                vor die Tür gesetzt hatten. Manchmal saßen wir in der 
                Küche zusammen, tranken Rum und deklamierten unsere Verse. 
                Ich war sehr von dem amerikanischen Lyriker Ted Berrigan beeinflusst 
                und schrieb Gedichte über wuchtige Kellnerinnen und schwachen 
                Filterkaffee. Auch der Dichter liebte die Poesie des Alltags, 
                konnte sie aber massentauglicher formulieren. So dachte ich zumindest 
                damals. Und nun saß er in meiner Werkstatt, blickte durch 
                die verschmierten Gläser seiner schwarzen Hornbrille ins 
                Leere und erzählte drauflos.  
                Ich hatte gerade die Rezension eines neuen Romans beendet, als 
                die Türklingel ging. Das Buch interessierte mich vor allem 
                wegen einer Passage, die von einem abstürzenden Modellflugzeug 
                handelt, doch das verschwieg mein Artikel. Schließlich muss man 
                in Buchbesprechungen nicht immer seine wahren Motive enthüllen. 
                "Sollte man doch", bellte der Dichter in meinen nur 
                gemurmelten Gedankengang hinein. "Ich weiß, dass der 
                Arsch Klausmeier meine Geschichten aus dem Mehrzweckbau nur verrissen 
                hat, weil ich ihm 1978 die Anja ausgespannt habe. Und dieser andere 
                Blödmann, Schnutz oder so, ist nur sauer auf mich wegen der 
                Mallorca-Sache." Ich wollte gar nicht wissen, was vor 25 
                Jahren auf der Insel passiert war, und fragte den Dichter rasch 
                nach seinem neuen Buchprojekt. "Deswegen bin ich überhaupt 
                hier", schoss die Antwort aus ihm heraus. "Müller-Zech, 
                du warst doch auch im KSV oder KDW oder wie der Verein hieß?" 
                Da traf er einen wunden Punkt. Dass ich einst für kurze Zeit 
                mit einer proletarisch-revolutionären Studentenvereinigung 
                sympathisiert hatte, war ein streng gehütetes Geheimnis, 
                da ich um mein Image als undogmatisch-anarchistischer Geist fürchtete. 
                Wie konnte der Dichter davon wissen? "Ich werde den definitiven 
                Roman über die maoistischen Parteien der siebziger Jahre 
                schreiben", redete dieser weiter, "und für ein 
                zünftiges Zeitpanorama brauche ich jede Menge Insiderinformationen. 
                Wie war das, als du deine Arbeit über Hölderlins späte 
                Lyrik abgebrochen hast, um jeden Morgen vor Fabriktoren zu agitieren?" 
                Hölderlin, wie kam er darauf? Der hatte mich doch nie sehr 
                interessiert. Und vor den Fabrikeinsätzen hatte ich mich 
                eigentlich immer gedrückt, wie gesagt, ich war nur ein kurzfristiger 
                Sympathisant der marxistisch-leninistischen Sache gewesen und 
                hatte mich rasch für angenehmere Möglichkeiten, mich 
                als Teil einer Jugendbewegung zu fühlen, entschieden, was 
                übrigens auch zu den oben skizzierten politischen Differenzen 
                führte.  
                Der Dichter blickte enttäuscht. Romane über langhaarige 
                Gelegenheitskiffer gab es bereits, er selbst hatte einen davon 
                geschrieben. So würde ihm nichts anderes übrig bleiben, 
                als sein Alternativprojekt zu verfolgen. "Dann fliege ich 
                eben morgen in die Karibik", tönte er trotzig, "und 
                setze meine Voodoo-Recherchen fort. Hier kracht bald sowieso alles 
                zusammen. Ach, diese Schwäche!" Und weg war er. Während 
                draußen der Motor seines VW Polos aufheulte, machte ich 
                mich endlich daran, die Bücherauswahl für meine Kolumne 
                zusammenzustellen. Ein seltsamer Roman des norwegischen Schriftstellers 
                Dag Solstad gehörte dazu. Ein Literaturprofessor 
                beobachtet ausgerechnet am Heiligen Abend einen Mord im Fenster 
                des gegenüberliegenden Gebäudes, behält dies aber 
                für sich. Aus dieser Situation entwickelt sich nun allerdings 
                kein Krimi, sondern eine Mischung aus Essay und Erzählung, 
                die dem Zusammenhang von Literatur, Leben und Moral auf die Schliche 
                zu kommen versucht. Sehr gut hatte mir die Beschreibung einer 
                Tafelrunde arrivierter Mittfünfziger gefallen, die sich ob 
                ihrer "revolutionären" Vergangenheit nicht als 
                die "Stützen der Gesellschaft", die sie nun mal 
                sind, betrachten mögen. Da hätte der Dichter sehr gut 
                hineingepasst. Während ich zu diesem Zeitpunkt noch das Gefühl 
                hatte zu verstehen, was Solstad mir erzählen will, verließ 
                mich diese Gewissheit im Laufe der weiteren Lektüre. Der 
                Professor reist zum Skifahren nach Trondheim, trifft dort einen 
                Kollegen, führt lange Gespräche über Ibsen, dessen 
                Werk sein Spezialgebiet ist, denkt über den Mord nach, den 
                er noch immer nicht gemeldet hat, und trinkt ziemlich viel. Zurück 
                in Oslo begegnet er dem mutmaßlichen Mörder in einer 
                Sushi-Bar. Was das Ende des Romans angeht, will ich nur verraten, 
                dass es recht unspektakulär ausfällt. Wahrscheinlich 
                gibt es dafür einen guten Grund, der sich mir allerdings 
                nicht erschließen wollte. Ich vermute, das Büchlein 
                ist ein Traktat über die menschliche Existenz, das sich als 
                Roman verkleidet hat. Oder vielleicht auch eine geharnischte Kritik 
                an der norwegischen Gesellschaft? Wer weiß?  
                Besser dran ist man da mit einem anderen Romanessay, der uns die 
                Irrungen des jungen Stephan Wackwitz 
                nahe bringt. Der aus gut bildungsbürgerlichem Hause stammende 
                Germanistikstudent schließt sich nämlich, wider besseres 
                Wissen, in den siebziger Jahren dem Marxistischen Studentenbund 
                Spartakus an. Bis heute scheint ihn diese Entscheidung nicht losgelassen 
                zu haben, und wer könnte das besser verstehen als ich, dem 
                die Heimsuchung durch den Dichter noch in den Knochen steckte. 
                Aber Wackwitz verschweigt seine Jugendtorheit nicht, sondern tut 
                öffentlich Buße. Im Lichte des eigenen Irrtums wächst 
                das Verständnis für die Verblendung früherer Generationen. 
                Ob man deshalb gleich die Politiksimulation des MSB und anderer 
                kommunistischer Organisationen zur "zweite(n) totalitäre(n) 
                Massenbewegung des letzten Jahrhunderts in Deutschland" deklarieren 
                muss, möchte ich allerdings bezweifeln. Aber dem nicht uneitlen 
                Autor war offenbar daran gelegen, der eigenen Dummheit historische 
                Dimensionen beizumessen. 
                Wo Wackwitz heiligen Ernst walten lässt, regiert bei Alfons 
                Huckebrink die Ironie. Der zweite Teil seines autobiographisch 
                grundierten Romanprojekts um den jungen Thomas Bitterschulte, 
                den es Anfang der siebziger Jahre aus der fiktiven westfälischen 
                Kleinstadt Emslake in die Universitätsmetropole Münster 
                verschlägt, ist ein altersmilder, manchmal auch wehmütiger 
                Rückblick auf bewegte Zeiten. Das Tun und Treiben studentischer 
                Aktivisten, auch hier spielt der MSB Spartakus die entscheidende 
                Rolle, wird nicht ohne Sympathie geschildert. So treten die komisch-grotesken 
                Züge des raumgreifenden Politzirkus, dem der ganze Campus 
                zur Klassenkampfmanege wurde, umso deutlicher heraus. Als detailgenaue 
                Innenansicht einer gerne vergessenen Jugendkultur ist Huckebrinks 
                Roman das passende Seitenstück zu Wackwitz' Rechenschaftsbericht 
                in eigener Sache.  
                Wer allerdings dahinterkommen möchte, warum "Oberärzte, 
                Ministerialräte, Chefpsychologen, gefeierte Schauspieler 
                und Literaturprofessoren", wie in Dag Solstads Roman sehr 
                schön dargestellt, nicht von der Überzeugung lassen 
                wollen, sie seien weiterhin unangepasste Rebellen gegen das Establishment, 
                der lese Konsumrebellen, eine bissige Attacke der kanadischen 
                Autoren Joseph Heath und Andrew 
                Potter auf den "Mythos der Gegenkultur". Als 
                jemand, der sich täglich seiner grundsätzlichen Opposition 
                zu den meisten gesellschaftlichen Erscheinungen, alte Fernsehserien, 
                Modellflugzeugbau und literarische Erzeugnisse einmal ausgeschlossen, 
                versichert, bereitete es mir natürlich einigen Schmerz, von 
                jungen Schnöseln, beide Autoren sind noch keine vierzig, 
                so vorgeführt zu werden. Aber dieses Gefühl ließ 
                sich leicht durch einen energischen Schritt in Richtung Konformismus 
                bekämpfen. Ich schaltete MTV ein.  
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