Am Erker 88

Clemens Schittko: nur Sex

Patrick Wilden: Seltsamer Lärm

Mariusz Lata: nachspielzeit

Michael Georg Bregel: Raunacht

Hans Brinkmann: Inhalte#

 
Fritz Müller-Zech 88
Die Kolumne
 

Ich versage. Und das ist gut so. Nur vage Erinnerungen verbinden mich mit meinem früheren kritischen Ich. Dass es eine Zeit gab, in der ich im Minutentakt Meinungen produzierte, kann ich mir heute kaum noch vorstellen. Schlechte Lyrik, miserable Prosa, fragwürdige Essayistik – schon nach wenigen Zeilen stand mein Urteil fest. Obwohl ich meine Verrisse gerne als Rache für verschwendete Lesezeit bezeichnete. So kleinlich kann man sein. Doch nun, da ich mich neu erfunden habe, soll der notorisch übelgelaunte Müller-Zech für immer der Vergangenheit angehören. Fröhlich durchblättere ich neue Lyrikbände, nehme ab und an ein Schlückchen Ingwertee und freue mich an frischen Gedanken.
Clemens Schittko aus Berlin-Friedrichshain zum Beispiel buchstabiert in alphabetischer Reihenfolge durch "die Ängste in den Zeiten der EU" und findet damit meine unbedingte Zustimmung. Denn er erwähnt auch die Angst vor Rolf Dieter Brinkmann, an dessen Roman Keiner weiß mehr ich als 17-Jähriger erbärmlich scheiterte, obwohl mir das von den Rolling Stones geborgte Motto ("Oh, no, no, no") sehr sympathisch war. Vor Clemens Schittko, drei Jahre nach Brinkmanns Unfalltod geboren, habe ich keine Angst. Im Gegenteil. Mir gefallen sein respektloses Traditionsbewusstsein und seine Sprachskepsis. Auch wenn sie sich gegen ihn selbst als Lyriker wendet. Zeilen wie "nichts habe ich geschafft / und nichts habe ich erreicht" würde ich umgehend unterschreiben, wäre sein Text "Selbstkritik" ein Pamphlet. Doch das ist er nicht. Er ist und bleibt ein wütendes Gedicht, das seine Aussage eindrücklich widerlegt. Insofern bleibt auch die Frage eines anderen Textes, wer denn heutzutage noch Lyrik lese, eine rhetorische. Obwohl ich bei der Lektüre gerne "ich" rufen würde.
Das gilt auch für die mutig gereimten Gedichte Patrick Wildens, von denen eine Reihe in dem Heft Seltsamer Lärm zu lesen sind. Da folgt auf "Tannenbusch" der "Hindukusch", und "Unbehagen" geht eine Beziehung zum "Organversagen" ein. Hier macht sich ein mit den kalkhaltigen Wassern der Moderne gewaschener Poet einen Spaß, den man gerne teilt. Vor allem, wenn sich in einem kurzen Gedicht "Schmerzen" tatsächlich auf "Herzen" reimen. Nicht umsonst trägt der Fünfzeiler den Titel "Sülz". Ausgesprochen vergnüglich finde ich das und fische mir zum Tee einen Schokoladenkeks aus der Dose, peinlich darauf achtend, keines der vor mir liegenden Bücher mit Flecken zu verunzieren. Und denke, dass literarische Experimente Spaß machen können. Zumindest denjenigen, die sie anstellen.
Wer sollte das besser wissen als der im Ruhrgebiet lebende Dichter Mariusz Lata, dessen Debüt nachspielzeit eine Zusammenstellung von Prosa, Sentenzen und Schund verspricht. "alle wollen experimentelle prosa schreiben / keine will sie lesen" heißt es da, doch mit diesem Statement ist der Gedanke noch lange nicht an sein Ende gelangt. Denn: "keine will experimentelle prosa schreiben weil das nicht schön ist weil sie ästhetik & kallistik gleichsetzt weil die wege schon so schön trampelpfadmäßig ausgeschritten sind & die methoden zur textanhäufung sich aufhäufen etc." Was als Zitat nur begrenzt nachzuvollziehen ist, zeigt im Buch durch die Anordnung der Zeilen eine ganz andere Wirkung. Denn Mariusz Lata ist ein Sprachspieler von Gnaden. Und, das sei hier erwähnt, ein leiderprobter Fußballfan. Verfügte Schalke 04 über eine Mannschaft mit vergleichbarem Balltalent, müsste man sich um den Klassenerhalt keine Sorgen machen.
Noch finsterer als im Keller der zweiten Liga geht es in den Gedichten des Berliner Lyrikers Michael Georg Bregel zu. Ungeschützt ist das Individuum der Nacht ausgesetzt: "ich bin nackt / es ist dunkel" endet eine knappe Meditation über die Grenzen sinnlicher Wahrnehmung. Da wundert die Bitte, "das lösegeld / nicht / zu zahlen", wenn "der schlaf kommt / mich überwältigt / bewusstlos schlägt" nicht. Aber der Morgen, falls er denn kommt, macht es auch nicht besser. Denn ein "noch tieferes / nichts wartet" hinter dem "schwarz / der nacht", und "es ist schneller / als ein morgen". Bregel beherrscht den kunstvollen Umgang mit Worten im Dienste der Dunkelheit. Und ich lese sie im grellen Licht meiner Werkstatt, wo Neonröhren knistern und unvollendete Flugmodelle auf ihre Tragflächen warten. So lässt sich die eigene Existenz wunderbar auf das Wesentliche reduzieren.
Tief entspannt greife ich zum letzten Buch des Stapels und finde auf Seite 63 ein Gedicht, in dem "Bong" auf "Feuilleton" gereimt wird. Der Poet heißt Hans Brinkmann, lebt in Chemnitz und schreibt ebenso scharfe wie einleuchtende Verse über die Zumutungen der Gegenwart. Deshalb möchte ich mit dem zweizeiligen Schlussappell des Gedichts enden: "Lass den Rappel im Karton / und im Schließfach die Ekstase."

 

Clemens Schittko: nur Sex. 177 Seiten. XS. Berlin 2024. € 20,00.

Patrick Wilden: Seltsamer Lärm. 36 Seiten. Black Ink. Scheuring 2024. € 8,00.

Mariusz Lata: nachspielzeit. prosa. sentenzen. schund. 128 Seiten. Ritter. Klagenfurt, Graz, Wien 2024. 19,00.

Michael Georg Bregel: Raunacht. Gedichte. Mit Grafiken von Steffen Büchner. 32 Seiten. Neun Reiche. Berlin 2024. € 9,00.

Hans Brinkmann: Inhalte. Gedichte und Notizen. 110 Seiten. Eichenspinner. Chemnitz 2024. € 14,00.