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Calwer Hermann-Hesse-Preis
Seite der Hermann-Hesse-Stiftung mit Jurybegründung

 

Hermann-Hesse-Preis
für Literaturzeitschriften 1998

Die Laudatio von Michael Braun
Gehalten am 2. Juli 1998 in Calw.

Den Text gibt es als pdf-File zum Herunterladen.
Er liegt ebenfalls in englischer und in spanischer Übersetzung vor.

 

Michael Braun
Von der Schönheit des Alltäglichen und der Musik des Zufalls

Sehr geehrter Herr Zeller, hochverehrte Mitglieder, Förderer und Freunde der Hermann-Hesse-Stiftung, lieber Joachim, meine Damen und Herren,

erschrecken Sie nicht, wenn ich hier mit einem alarmierenden medizinischen Befund beginne: Zeitschriften herausgeben, so lautet die Diagnose, ist krankhaft, es ist eine nervenzerrüttende Tätigkeit für Süchtige. Diese Erkenntnis stammt von einem, der es wissen muss: von Walter Höllerer nämlich, dem wohl literatursüchtigsten Zeitschriftenherausgeber, den die literarische Welt je hervorgebracht hat. Der spiritus rector so ruhmreicher Organe wie "Akzente"und "Sprache im technischen Zeitalter" weiß aus leidvoller Erfahrung, dass es für Herausgeber von periodisch erscheinenden Druckwerken unmöglich ist, sich in einer hauptamtlichen, respektive nervenschonenden und "schaukelstuhlhaften" Sucht gemütlich einzurichten. Zu den Voraussetzungen erfolgreicher Zeitschriften-macher, so lernen wir von Höllerer, gehört neben der obligaten Bibliomanie und Leidenschaft für Literatur der Gegenwart auch unendlich viel Geduld und Idealismus und nicht zuletzt eine unbeirrbare Bereitschaft zur Selbstausbeutung und die Fähigkeit, von pekuniären Spekulationen gänzlich abzusehen. Am Anfang der Zeitschriftensucht jedoch steht die literarische Größenphantasie, der drängende Wunsch, sich als Rächer der poetisch Unterdrückten gegen das Establishment zu exponieren und endlich selbst Dauergast im literarischen Olymp zu werden.
So formulierten schon vor exakt zweihundert Jahren zwei junge, rebellisch gestimmte Dichter namens Friedrich und August Wilhelm Schlegel den nicht ganz unbescheidenen Anspruch, mit der Gründung einer romantischen Literaturzeitschrift nicht nur die poetischen Verhältnisse gehörig zum Tanzen zu bringen, sondern "nach 5 bis 10 Jahren kritische Dictatoren Deutschlands zu sein". Dieser Hochmut der Gebrüder Schlegel, die anno 1798 mit ihrem legendären Athenäum eine "kritische Dictatur" in der literarischen Welt errichten wollten, mag nachgerade von den Literaturhistorikern nobilitiert worden sein. Nüchtern betrachtet, scheiterten ihre hochfliegenden Visionen damals rasch an Mitarbeiter- und Manuskript-Mangel. Den zunftimmanenten Hochmut, die Größenphantasie und auch die kurze Laufzeit ihres Projekts haben sie indes an viele literarische Nachgeborene vererbt, die bis heute glauben, ästhetische Opposition gegen die Altvorderen mit Hilfe des alten Mediums Literaturzeitschrift betreiben zu müssen. Viele literarische Protestenergien toben sich seit den siebziger Jahren auf dem weiten Feld der Literaturzeitschriften aus, die meisten davon haben sich nach kurzer Zeit erschöpft. In den meisten dieser kurzlebigen Organe triumphiert das, was der Namensgeber dieses Preises, was Hermann Hesse in einem Brief an den Zeitschriften-Herausgeber Thomas Mann einmal "momentane Entladungsbedürfnisse" genannt hat.
An "momentanen Entladungsbedürfnissen" herrschte auch in den frühen Jahren der Zeitschrift Am Erker kein Mangel. Viel mehr als ein glühender Wille zur Sabotage des literarischen Konsensus und zum Umsturz der poetischen Verhältnisse war am Anfang nicht vorhanden. Als sich da im legendären Deutschen Herbst des Jahres 1977 einige angehende Germanistikstudenten und Sozialarbeiter namentlich: Joachim Feldmann, Michael Kofort, Rudolf Gier und Friedhelm Wenning, als sich diese aufklärerisch gesinnten Herren aus dem westfälischen Münster also zusammentaten, um ihre libertären literarischen Botschaften unters poetisch eher desinteressierte Studentenvolk zu bringen, hatte man von den Schlegels allenfalls die Größenphantasie, nicht aber den Genius geerbt. Es waren die Jahre, da sogenannte "little magazins", kleine alternative Zeitschriften, nach amerikanischem Vorbild wie Pilze aus dem Boden schossen, "little mags", die sich durch viel guten Willen zur subliterarischen Gegenöffentlichkeit, aber durch wenig technische, finanziell und ästhetische Mittel auszeichneten. Es waren die Jahre, da es genügte, schlampig getippte Typoskripte, womöglich noch handschriftlich korrigiert, zu vervielfältigen und im Offsetdruck-Verfahren einem äußerst schmalen Leserkreis zum raschen Konsum vorzuwerfen. Diese Demokratisierung der Literatur, beflügelt durch den Boom der unsäglichen "Verständigungstexte", fand auch in den ersten Heften der Zeitschrift Am Erker statt - in der leider üblichen Form der Duzbrüderschaft mit den Lesern und einem unbeschwerten Dilettantismus, der jede aufmüpfige Äußerung gleich als poetische Radikalität missversteht.
Ihren Namen hatte sich die Zeitschrift, darin ganz Spontanitäts-Avantgarde, aus einer anagrammatischen Umformung des Romantitels Amerika von Frank Kafka geborgt. Literatur in Am Erker, das war einige Jahre lang nur die Fortsetzung der Wohngemeinschaftsfete mit höchstens semipoetischen Mitteln. Es blühten die großspurigen Tabula-Rasa-Gesten, die Verächtlichmachung von bürgerlicher Ästhetik und eine stolz zur Schau gestellte Schmuddeligkeit im Layout, die aber die Begeisterung der Herausgeber nur weiter befeuerte. Kurz gesagt: In den ersten Jahren nach seiner Gründung hat sich Am Erker mit allen nur denkbaren Kinderkrankheiten einer sogenannten alternativen Literaturzeitschrift infiziert. Was heute im Rückblick besonders rührend anmutet, das unentwegte Anduzen des Lesers und das demonstrative Bekenntnis zur kommunitären Geselligkeit, korrespondierte mit den besonderen Distributionsweisen der Zeitschrift, einem nächtlichen "Außendienst", wie er für die späten siebziger Jahre typisch ist. Zu nachtschlafender Zeit zog das "Am Erker-Kollektiv", wie es sich in Zeiten unverbrüchlicher linker Bruderschaft noch nannte, tapfer durch Münsteraner Bierkneipen, um dort (ich zitiere den Erker 28) "geduldigen studentischen Trinkrunden die Zeitschrift aufzuschwatzen".
Noch bis in die frühen achtziger Jahre hinein währte das fröhliche Treiben in der regionalen Nische des Literaturbetriebs, hemmungslos auf Du und Du mit dem Leser, vorangetrieben durch den Wunsch nach intimer literarischer Selbstverständigung. Literatur war oft nur Nebensache, bis, ja, bis vielleicht zur Nummer 12 des Erker aus dem Jahr 1983, die erstmals mit einer vermutlich vorsintflutlichen Form eines Satzcomputers erstellt wurde. In dieser Zeit muss sich eine Art ästhetische Offenbarung vollzogen haben, das Erwachen einer literarischen Ambition jenseits der Gesinnungsästhetik. In dem schon professionell gestalteten Heft 14 findet sich eine Grundsatzerklärung eines linken Literaturwissenschaftlers, der alle Parteilichkeits-Forderungen an die Literatur abweist und den "Drang nach politischer Deutlichkeit und aktueller Wirkungsmöglichkeit" von Texten als geradezu "kleinbürgerliche" Lektürehaltung kritisiert. Auch den Erker-Redakteuren dämmerte nun die Erkenntnis, dass das politisch Korrekte ästhetisch entsetzlich dürftig sein kann, und dass die phantastischen Erfindungen der Literatur den Gewissheiten der Ideologie in jedem Fall vorzuziehen sind. Wenn kurz darauf in Heft 16 der Erker-Redakteur Rudolf Gier den Schriftsteller Ralf Thenior zu seinem Werk befragte, dann ist das auch schon als Grundriss jener Poetik zu lesen, die von der Zeitschrift selbst favorisiert wird: Die auf der Grenze zwischen kruder Alltäglichkeit und grotesker Phantastik balancierenden Texte des Kurzgeschichtenerzählers Thenior können als ästhetisches Modell gelten für den literarischen Kurs der Zeitschrift. Es ist die ausgeprägte Vorliebe für kurze, lakonische, skurril akzentuierte, den Alltag mikroskopierende Prosa, die Am Erker seit zwanzig Jahren kultiviert und von der Feldmann, Gier, Kofort & Co. wohl auch in Zukunft nicht lassen werden.
"Die alltäglichen Dinge sind schön und reich genug, um aus ihnen dichterische Funken schlagen zu können": Dieser Robert Walser-Satz, eingeschmuggelt in Heft 30 von Am Erker, hat stilbildend gewirkt. Mit dem Ende der literarischen Pubertät ist die Neigung zu skurrilen Kurzgeschichten und zu kleinformatigem Alltagsrealismus zur Passion geworden. Seit dem Ralf Thenior-Interview, dem ersten Interview im Erker überhaupt, werden immer wieder Autoren und Texte publiziert oder aber in Gesprächen und Rezensionen vorgestellt, die der heiß geliebten Ästhetik der Skurrilität aufs Schönste entsprechen: der große Ror Wolf etwa, der in seinen burlesken Geschichten immer wieder die Haken ins Phantastische schlägt - oder auch, in Heft 25, der Schriftsteller Paul Auster, in dessen abgründig-verstörender Prosa die Musik des Zufalls vibriert und eine unerhörte Begebenheit die nächste jagt. Daneben gelang Am Erker auch so manche Entdeckung unter jüngeren, unbekannten Autoren: Burkhard Spinnen etwa, der virtuose Chronist unserer Angestelltenwelt und Erfinder tragikkomischer Alltagsverstrickungen hat seine ersten literarischen Texte im Erker publiziert, und mit dem jungen Marcus Jensen, so darf ich en passant prognostizieren, wird ein weiterer Erker-Autor demnächst von sich reden machen.
Zwanzig Jahre nach ihrem literarischen Coming-Out sind jedenfalls die Sudelblätter der radikalen Jungstudenten nicht mehr wiederzuerkennen: Am Erker, so resümiert in Heft 28 ein Rezensent fast wehmütig, Am Erker ist bürgerlich geworden. Tatsächlich kommt das Blatt seit einiger Zeit, exakt seit der Nummer 20, als weltläufiges Literaturmagazin daher, gewandet in ein seriöses Schwarz, das an die frühen Quartheft-Produktionen des Klaus Wagenbach Verlags und, im mittlerweile größeren Format, auch ein wenig an das an dieser Stelle schon gerühmte Schreibheft erinnert. Die phantastische Kurzgeschichte ist zum dominierenden Texttyp geworden, aber zum Markenzeichen der Zeitschrift hat sich der umfangreiche Rezensionsteil entwickelt, in dem unser feierlicher Feuilleton-Ernst auf äußerst intelligente und witzige Weise konterkariert wird. Bedeckt mit allerlei Tarnkappen, melden sich hier die Erker-Redakteure zu Wort, um in lustigen Kolumnen den literarischen Betriebsfrieden zu stören. Als besonders fleißiges Rezensenten-Faktotum agiert hier ein gewisser Fritz Müller-Zech, der, ausweislich der biographischen Notiz, "als Fernseher, Modellflieger und Gesellschaftskritiker in Oer-Erkenschwick" lebt und trotz seiner vorgeschützten, kleinbürgerlichen Unschuld einen erstaunlichen Lesehunger entwickelt. Als Stichwortgeber und Anekdotenzulieferer assistieren ihm kritische Subjekte mit so kulinarischen Namen wie Peter Pfirschinger und Johannes Vierfrucht, die nicht nur ein Faible für vitaminreiche Nahrung, sondern auch für die ironische Sabotage literarischer Dignität haben. Zum literarischen Eigensinn unserer Zeitschriftenmacher gehört eben auch, dass sie kräftig an der Entzauberung so mancher pathetischen Neutöner mitwirken. Eins der wirkungsvollsten Medikamente gegen falsches Pathos in der Literatur ist zweifellos die Erker-Lektüre.
So bleibt mir am Ende nur, Ihnen, werte Mitglieder der Jury, für Ihre mutige und originelle Entscheidung zu danken, den Preis an einige untherapierbare Zeitschriftensüchtige aus Münster zu vergeben, die dort im Dahlweg 64 unentwegt an der Poetik der Skurrilität arbeiten. Fritz Müller-Zech, soviel sei noch verraten, durfte soeben seinen 40. Geburtstag feiern, und er wird, das hat er dem Laudator versprochen, sich auch in Zukunft weniger mit seinen perfekten Modellflugzeugen als mit dem unvermeidlich fehlerhaften, nicht perfekten, dafür aber erkenntnisfördernden Medium Literatur beschäftigen.