Am Erker 30

John Berger
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John Berger: Das Sichtbare und das Verborgene

John Berger: Spiel mir ein Lied

John Berger: To the Wedding

John Berger: Das Leben der Bilder

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John Berger

Im Gespräch mit Georg Deggerich

Am Erker 30, Herbst 1995

"Die Aufgabe des Schriftstellers ist es, die Dinge dem Chaos zu entreißen"

Am Erker: Bevor Sie Schriftsteller wurden, waren Sie als Maler und Zeichenlehrer tätig. Gab es einen besonderen Grund für diesen Wechsel?

John Berger: Das muss 1951 oder 1952 gewesen sein. Und der Grund dafür war die weltpolitische Lage. Es hatte nichts mit fehlendem Talent zu tun. Ich war gerne Maler und zufrieden mit dem, was ich tat. Aber in dieser Zeit schien die Drohung eines nuklearen Krieges sehr, sehr nah. Viel näher, als man sich heute erinnert oder sich vorzustellen vermag. Und es gab Hunderttausende, die sich dessen bewusst waren. Die unmittelbare Gefahr bestand in einem Präventivschlag durch Washington, da die Sowjetunion damals noch keine Nuklearwaffen besaß. Selbst bekannte Schriftsteller und Intellektuelle schrieben skandalöse Artikel, in denen sie einen Präventivschlag befürworteten und ernstlich eine Bombardierung Moskaus in Erwägung zogen. In dieser Situation hatten viele von uns das Gefühl, sie hätten nur noch wenige Monate zu leben.
Gegen dieses Gefühl mussten wir ankämpfen, und die Malerei schien mir dazu nicht das geeignete Mittel. Natürlich war ich mir bewusst, dass auch mit Schreiben nicht viel auszurichten war, aber als Journalist zu arbeiten und in Artikeln öffentlich Widerstand zu leisten, war für mich die einzig denkbare Möglichkeit.
Ich hatte als Kunststudent in London die Zeit des Blitzkriegs miterlebt, und auch da mussten wir um unser Leben fürchten, aber merkwürdigerweise war es ein sehr unterschiedliches Gefühl. In den späten Vierzigern und frühen Fünfzigern war es einfach schrecklich. Und deshalb hörte ich mit der Malerei auf und wurde Schriftsteller. Dann änderte sich die Situation. Denn sobald die Sowjetunion ebenfalls Nuklearwaffen entwickelt hatte, war das Risiko sehr viel geringer.
Natürlich gab es auch später noch Krisensituationen, wie etwa in Kuba, aber die unmittelbare Gefahr war eindeutig geringer. Ich denke, das ist zumindest der bewusste Grund, warum ich Schriftsteller wurde.

Am Erker: Einer der zentralen Aspekte Ihres Werks, angefangen von Ihrem Roman-Erstling Die Spiele (1958) bis zur Gegenwart, ist die Verteidigung des Individuums gegen die zerstörerischen Kräfte der Geschichte. Gibt es in Ihrem Werk so etwas wie einen humanistischen Grundimpuls?

John Berger: Ja, ich denke schon. Obwohl es für einen Schriftsteller immer sehr schwierig ist, sein eigenes Werk zu beurteilen. Andere können das viel besser. Aber ich habe wohl so etwas wie eine tiefsitzende Sympathie für die Unterdrückten, auch wenn mir das Wort nicht sonderlich behagt. Vielleicht sollte ich besser Underdogs sagen. Ich glaube, das ist ein fester Bestandteil meines Wesens. Ob man dies mit dem Begriff humanistisch bezeichnen sollte, weiß ich nicht. Das Wort klingt sehr theoretisch und ein bisschen fromm. Bei mir ist es mehr eine Sache, die direkt aus dem Bauch kommt.

Am Erker: Bleiben wir bei den Underdogs. In Ihren Büchern und Essays hat man das Gefühl, als würden Sie Ihre Stimme für die Unterprivilegierten erheben, um ihnen ihre persönliche Würde und Integrität wiederzugeben?

John Berger: Ich denke, es geht hier nicht um ein Zurückgeben der Würde, denn in meinen Augen haben diese Leute Würde. Es geht vielmehr darum, diese Würde zu erkennen. Sie zurückzugeben, wäre eine Art Almosen, und das wäre schrecklich. Man muss vielmehr versuchen, sich weit genug zu öffnen, um die Würde dieser Menschen zu sehen. Es gibt einen wunderbaren Satz von Simone Weil, der lautet: "Irgendwo schreit ein Mensch auf: 'Was geschieht mit mir?'" Und sie sagt: "Dieser Schrei kann niemals missverstanden werden. Er ist unbezweifelbar." Man kann ihn nicht in Frage stellen.
Andere mögen vielleicht eine tiefgehendere und umfassendere Antwort auf diese Frage geben können, aber der Schrei als solcher ist unhinterfragbar und immer im Recht. In manchen, nicht in allen meinen Texten versuche ich eine Art ausführlichere Version dieses Schreis "Was geschieht mit mir?" zu geben, mit all dem Takt und der Zurückhaltung, die dazu notwendig sind. Aber ich bin es nicht selbst, der da spricht. Ich höre nur zu.

Am Erker: In Ihrem Essay "Ev'ry Time We Say Goodbye" bezeichnen Sie unser Jahrhundert als "das Jahrhundert des Verschwindens". In nie gekannten Dimensionen wurden Menschen durch Krieg, Hunger, politische Verfolgung und andere Gründe aus ihren Heimatländern vertrieben. Verstehen Sie Ihr Werk auch als eine Art Festhalten von Einzelschicksalen, die andernfalls vergessen würden?

John Berger: Nun, Sie werden mir sicherlich darin zustimmen, dass dies das bedeutendste Merkmal unseres Jahrhunderts ist, vielleicht sogar das Merkmal, in dem sich unser Jahrhundert am markantesten von allen anderen unterscheidet, obwohl man diese Differenz nicht überstrapazieren sollte. Wenn man also über unser Jahrhundert schreibt, erscheint es nur natürlich, dass dieses Thema wieder und wieder zur Sprache kommt. Und vielleicht hofft man auch ein wenig darauf, in seinem Schreiben etwas von den Geschehnissen dieses Jahrhunderts festhalten zu können. Aber man sollte diesen Aspekt nicht überbewerten, denn ich glaube nicht, dass diese Dinge andernfalls vergessen würden. Zunächst einmal ist man nicht der Einzige, der sich dieser Aufgabe widmet. Und zum Zweiten werden die Dinge auf vielfältige Weise dokumentiert oder leben in anderen Traditionen fort. Insofern glaube ich nicht, dass ein Schriftsteller seine Aufgabe darin sehen sollte, das Leben anderer in irgendeiner Weise zu bewahren oder dem Vergessen zu entreißen. Das wäre vermessen. Er kann nur ein kleines Stück dazu beitragen. Es gibt einen chinesischen Landschaftsmaler aus dem 18. Jahrhundert namens Qian Du. Von ihm stammt ein außergewöhnliches Buch über die Malerei. An einer Stelle sagt er: "Die Aufgabe des Pinsels ist es, die Dinge dem Chaos zu entreißen." Vielleicht ist die Aufgabe des Schreibstifts die gleiche - wenn auch in unterschiedlicher Weise. Und eine der Formen des Chaos ist das Vergessen.

Am Erker: Mitte der siebziger Jahre zogen Sie in ein kleines Dorf in der Haute Savoie, um dort die Trilogie Von Ihrer Hände Arbeit zu schreiben. In der Einleitung zu diesem Buch findet sich eine harsche Kritik des Fortschrittsglaubens, der in Ihren Augen von Kapitalismus und Sozialismus gleichermaßen vergöttert wurde. Am Beispiel der französischen Bergbauern zeigen Sie die fortschreitende Entwurzelung und Zerstörung der bäuerlichen Lebensart und Kultur durch einen blindwütigen Fortschritt. Bedeutete die Arbeit an diesem Buch für Sie auch so etwas wie der Versuch, die Erinnerung an eine verschwindende Lebensform wachzuhalten?

John Berger: Ich würde dieser Sichtweise grundsätzlich zustimmen. Allerdings möchte ich noch hinzufügen, dass es mir nicht allein darum ging, die Lebensweise dieser Leute in Erinnerung zu halten, weil wir in dieser Hinsicht ein verlorenes Rennen gegen die Zeit führen. Diese Bauern besitzen in der Tat ein ganz enormes Wissen, und zwar in einem sehr praktischen Sinne. Sie wissen, wie das Land zu bestellen ist, wie man Wälder aufforstet, wie man mit Tieren umgeht oder wie man aus Holz die Gegenstände zum täglichen Gebrauch anfertigt. Sie können mit ihren Händen zwar nicht alles, aber doch ziemlich viel bewerkstelligen. Sie sind nicht auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert. Diese große Geschicklichkeit in Verbindung mit ihrer Lebensart - nun, ich möchte dies nicht übertreiben, es gibt auch ziemliche Mistkerle unter ihnen -, aber es erscheint nicht abwegig, dass beides in nicht allzu ferner Zukunft wieder gefragt ist. Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel geben, das damals, als ich das Buch schrieb, noch gar nicht vorhersehbar war. Russland könnte heute nichts besser gebrauchen als die vielen Kleinbauern, die damals zu Abertausenden vertrieben wurden. Ihre Kultur wurde weitgehend zerstört, aber heute interessieren sich sehr viele dafür, weil sie wirklich gebraucht wird. Es geht also nicht allein um ein Erinnern, sondern in gewisser Weise auch um eine Bestandsaufnahme. Und ich kann mir vorstellen, dass zukünftige Leser einige dieser Geschichten nicht bloß als Rückblick auf Vergangenes lesen, sondern als Beispiele, wie man vielleicht leben könnte.

Am Erker: Im letzten Essay Ihres Buches Begegnungen und Abschiede setzen Sie sich mit den politischen Veränderungen in Osteuropa auseinander. Als besonderes Merkmal der jüngsten osteuropäischen Geschichte sehen Sie eine Erneuerung des Spirituellen, die im Gegensatz zu anderen revolutionären Bewegungen mit einer Rückwendung zur Vergangenheit verbunden ist. Glauben Sie, dass eine spirituelle Erneuerung nur in der Vergangenheit gefunden werden kann?

John Berger: Nein, ich glaube, Spiritualität kann nur im Blick auf das Bestehende gefunden werden. Ich habe erst kürzlich einen neuen Roman abgeschlossen, der wahrscheinlich Ende des Jahres in Deutschland erscheinen wird. Der englische Titel lautet To the Wedding. Es ist ein Roman über AIDS. Das Schreiben dieses Buches ist mir unglaublich schwergefallen. Nicht so sehr, was das Technische betrifft, sondern emotional. Und ich habe mich bislang noch nicht davon erholt.
Vor einigen Wochen kam mir der Gedanke, mit dem Schreiben ganz aufzuhören und wieder zu malen. Nicht, dass es sich hier um einen gefassten Entschluss handelte, aber es schien mir durchaus denkbar. Ich habe damals mit der Malerei aufgehört. Heute, denke ich, gibt es umgekehrt historische Gründe, die für die Malerei sprechen.

Am Erker: Die Kunstkritik nimmt in Ihrem Werk einen wichtigen Platz ein. Von den frühen Kritiken für Zeitschriften wie den New Statesman bis heute haben Sie sich immer wieder diesem Genre gewidmet. Würden Sie den Kunstkritiker Berger auf die gleiche Stufe wie den Romancier Berger stellen?

John Berger: Nein. Ich habe die Kunstkritik immer nur als Gelegenheitsarbeit betrachtet. Meinem eigenen Selbstverständnis nach bin ich in erster Linie Erzähler, nicht Kritiker. Selbst wenn Sie meine Kunstkritik näher betrachten, werden Sie feststellen, dass ein Großteil davon einen sehr narrativen Charakter besitzt. Sobald ich über ein Gemälde oder einen Maler zu sprechen beginne, kommen mir nahezu automatisch Geschichten oder Lebensschicksale in den Sinn. Ich will damit nicht sagen, dass ich in Bildern nach Geschichten suche, ich hoffe es jedenfalls nicht. Aber mir scheint, dass mein unmittelbares Interesse an der Kunst nicht dem eines Kunsthistorikers entspricht, sondern eher das eines Geschichtenerzählers ist, der viel von der Malerei weiß und darüber schreibt. Obwohl ich natürlich hoffe, dass mir auf dem Gebiet der Kunstgeschichte und der Ästhetik nicht allzu viele Fehler unterlaufen. Nebenbei bemerkt habe ich nie eine Art formalisierter ästhetischer Theorie entwickelt. Ich habe die Kunstkritik immer nur als eine Art Steckenpferd betrachtet, und wenn ich über Kunst schreibe, habe ich nicht das Gefühl, in eine andere Rolle zu schlüpfen und mir den Mantel des Kunstkritikers umzuhängen.

Am Erker: Das Interessante an Ihrer Kunstkritik ist, dass Sie oftmals von einem besonderen psychologischen Detail oder gar einer Obsession des Künstlers ausgehen, um von da aus zu einem Verständnis seines Werks zu gelangen. Würden Sie sagen, dass zwischen Kreativität und Obsession eine enge Bindung besteht?

John Berger: In der Tat. Zumindest in den vergangenen Jahrhunderten entspringen künstlerische Visionen häufig persönlichen Obsessionen. Als die Kunst noch im Bereich der Magie und des Rituals verwurzelt war, mag das anders gewesen sein. Aber sobald das Kunstwerk Resultat eines individuellen Schöpfungsprozesses ist, ist immer etwas von Obsession im Spiel. Noch interessanter ist vielleicht die Beobachtung, dass Talent sich fast immer, nun, nicht gerade einer Kompensation, aber doch einer persönlichen Schwäche verdankt. Ich will Ihnen dafür ein Beispiel geben. Einer meiner Freunde war der inzwischen verstorbene spanische Bildhauer Apeles Fenosa. Seit seiner frühen Kindheit litt er unter einer besonderen Form der Parkinson-Krankheit. Bereits mit fünfzehn zitterten seine Hände. Eines Tages fragte der Lehrer in der Schule in Barcelona alle Schüler nach ihren späteren Berufswünschen. Und er stand auf und sagte: "Ich möchte Bildhauer werden." Natürlich lachten alle. Aber er wurde tatsächlich Bildhauer. Seine besten Arbeiten sind ziemlich klein, in Ton modelliert und dann in Bronze gegossen. In erster Linie sind es Figuren, meistens Frauen, und sie alle zittern wie Blätter im Wind. Ich denke, man kann dies als eine Art Modellfall betrachten. Körperliches Handicap und künstlerisches Talent stehen hier in einem so engen Verhältnis, dass man meines Erachtens schon von einer Obsession sprechen kann.

Am Erker: Gerade Ihre jüngeren Schriften scheinen von einem mystischen, wenn nicht gar religiösen Empfinden geprägt zu sein. Insbesondere in Ihrer Kunstkritik werden Kunstwerke mit religiöser Terminologie als Mittel der Erlösung, als eine Form des Gebets oder als Zufluchtsort der Seele beschrieben. Würden Sie sagen, dass alle Kunst letztendlich auf Metaphysik verweist?

John Berger: Zunächst einmal glaube ich, dass Kunst immer Antwort auf ein Mysterium ist. Was nicht mit Mystifikation verwechselt werden darf. Ich denke, alle bildende Kunst ist immer eine Suche nach dem Unsichtbaren hinter dem Sichtbaren. Meiner Meinung nach begeht man einen Fehler, wenn man den Künstler als ausschließlichen Schöpfer eines Kunstwerks bezeichnet. So als ob alle Energie zu einem Kunstwerk aus ihm selbst stamme. Doch dem ist nicht so. Ich glaube vielmehr, dass die Energie aus einem Zusammenwirken des Künstlers und seinem Modell herrührt. Wobei ich Modell nicht notwendigerweise auf einen figürlichen Gegenstand oder eine Person beschränken möchte. Wenn wir etwa an Rothko denken, so war sein Modell ein bestimmter Ton des Lichts. Auch das kann ein Modell sein, nach dem er viele Jahre gemalt hat. Seine Malerei ist eine ständige Suche nach diesem einen Ton. In ihr fließen seine Vision und das Sichtbare gleichermaßen zusammen. Ich denke also, das Kunstwerk entsteht aus jenem Dialog zwischen Künstler und Modell, jenem Zusammenwirken.
Und darüber hinausgehend würde ich sogar sagen, dass das Sichtbare darauf wartet, entdeckt zu werden. Man kann das als Mystizismus bezeichnen, aber man muss es nicht. Tatsächlich braucht man sich nur die Evolution des Auges anzuschauen, um zu sehen, dass diese absolut parallel zur Evolution von Formen und Farben in der Natur verläuft. Das Fell einiger Tiere besitzt eben deshalb eine bestimmte Färbung, damit sie gesehen werden, weil ihr Überleben davon abhängt. Die Behauptung, das Sichtbare warte darauf, gesehen zu werden, erscheint folglich gar nicht mehr so mystisch. Nun gut, in der Natur dient das Gesehenwerden ausschließlich funktionalen Zwecken. Wenn wir uns aber dem Menschen und der Struktur seiner Einbildungskraft zuwenden, bleibt das Gesehenwerden nicht länger auf das Funktionale beschränkt, sondern wird zu einer Frage der Erkenntnis. Auf der Grundlage all dieser Überlegungen liegt die Quelle der Spiritualität für mich im Aufgeschlossensein gegenüber den Dingen, nicht in einer Rückwendung zur Vergangenheit. Ganz im Gegenteil. Wir müssen uns dem Hier und Jetzt zuwenden.

Am Erker: Von der Kritik wurden Sie abwechselnd als Marxist oder als Mystiker bezeichnet. Besteht für Sie kein Widerspruch darin, so unterschiedlichen Lagern zugerechnet zu werden?

John Berger: Ja, sicher doch. Aber so ist das nun einmal mit plakativen Etikettierungen. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Im Übrigen waren beide Bezeichnungen nie ganz korrekt. Schon als Maler habe ich mich sehr viel mit Darstellungen aus dem Neuen Testament oder den Psalmen beschäftigt. Und ich hatte immer ein großes Interesse an metaphysischer Dichtung. Zugleich verstand ich mich als Marxist. Ich meine, ich benutzte den Marxismus als ein Werkzeug, um das, was um mich herum geschah, zu erklären. Und in vielen politischen Fragen war ich eindeutig militant. Aber die andere Seite gehörte auch immer zu mir. Wobei ich nie das Gefühl hatte, eine irgendwie gespaltene Persönlichkeit zu besitzen. Der Widerspruch resultierte allein aus dem Etikett Marxist, mit zum Teil sehr kuriosen Folgen.
Als beispielsweise mein erster Roman Die Spiele veröffentlicht wurde, hagelte es dafür in England von allen Seiten bitterböse Kritiken. Stephen Spender schrieb damals in einer der Sonntagszeitungen, das Buch sei ein teuflisches Machwerk und könne eigentlich nur aus der Feder des jungen Goebbels stammen. Nebenbei: Die einzige positive Reaktion auf das Buch fand sich ausgerechnet in einer katholischen Zeitung.

Am Erker: Sie würden also nicht von sich behaupten, Ihre intellektuelle Position im Laufe der Jahre gewechselt zu haben? Etwa von einem marxistischen Standpunkt hin zu einem mystisch-religiös eingefärbten Denken. Würden Sie beispielsweise die Bezeichnung Marxist nach wie vor für sich reklamieren?

John Berger: Das sind gleich zwei Fragen. Zunächst einmal denke ich, dass jeder in seinem Leben gelegentlich das Mobiliar verrückt, ohne gleich alles in einem Schwung hinauszuwerfen und sich eine komplett neue Einrichtung zuzulegen. Auch das kann passieren, aber auf mich trifft es nicht zu. Was mein Mobiliar angeht, so habe ich darin immer eine gewisse Kontinuität beibehalten, auch wenn einiges die Plätze gewechselt hat, so dass wenn man zur Tür hereinschaut, Dinge im Vordergrund stehen, die früher viel weiter hinten ihren Platz hatten. So viel zu Ihrer ersten Frage. Auf die zweite Frage, ob ich mich nach wie vor als Marxist betrachte, würde ich sagen, dass in Anbetracht des totalen ökonomischen Chaos, das gegenwärtig auf der Welt herrscht und demgegenüber selbst liberale Ökonomen ihre völlige Hilflosigkeit eingestehen, der Marxismus mir zumindest in einigen Punkten mehr Erklärungspotenzial zu besitzen scheint als sämtliche mir bekannten anderen Theorien.
Die große Schwäche des Marxismus - und das sage ich bereits seit fünfundzwanzig Jahren und nicht erst in jüngerer Zeit - sehe ich in den Zukunftsprojektionen des Marxismus und in seinem sehr gefährlichen Utopismus. Aber seine Analyse des Kapitalismus und einige seiner Erklärungen zum Verhältnis von Ökonomie und Ideologie scheinen mir auch heute noch zutreffend. Natürlich liegen die Dinge viel komplizierter. Unser Jahrhundert wurde im Wesentlichen vom Kampf zweier Weltanschauungen geprägt, die unterschiedliche Visionen von der Zukunft hatten. Vereinfacht gesagt stand auf der einen Seite der Marxismus und auf der anderen der Kapitalismus. Dieser Kampf kann heute mehr oder weniger als beendet betrachtet werden. Und deshalb vollzieht sich das Weltgeschehen heute auf eine grundsätzlich andere Art und Weise, da die meisten unserer früheren Erklärungsmuster auf eben jenem Kampf basierten, der sich inzwischen überlebt hat. Zumindest für den Augenblick haben die alten Erklärungen ihre Gültigkeit verloren.
Zugleich haben innerhalb des Kapitalismus selbst, gerade wenn wir die letzten zwanzig Jahre betrachten, gravierende Veränderungen stattgefunden. Man denke nur an die Rolle des internationalen Kapitals, an die Macht multinationaler Trusts, die größer ist als die irgendeines Staates auf der Welt etc. Das alles sind völlig neue Phänomene, an die Marx nicht auch nur denken konnte. Was aber nicht heißt, dass seine politische Ökonomie grundsätzlich überholt wäre.

Am Erker: Kommen wir zu Ihrem jüngsten Buch Mann und Frau unter einem Pflaumenbaum stehend. Es handelt sich dabei um zweiundzwanzig kurze Porträts, in denen Sie auf sehr persönliche Art von Begegnungen mit bekannteren, vorwiegend aber unbekannten Menschen berichten. Viele dieser Momentaufnahmen scheinen von einem gewissen Pathos geprägt. Würden Sie diesen Begriff für sich akzeptieren?

John Berger: Ohne jede Einschränkung. Ich möchte hier keinen qualitativen Vergleich anstrengen, aber wenn wir von Pathos sprechen, so scheinen mir die Erzählungen Tschechows sehr viel davon zu besitzen. Oder, wenn wir uns mehr in der Gegenwart umsehen, die Raymond Carvers, den ich sehr bewundere.

Am Erker: Aber kann Pathos nicht auch sehr gefährlich werden, wenn es selbst noch tiefster Not und Elend den Glanz von Erhabenheit verleiht?

John Berger: Ja, die Gefahr besteht sicherlich. Ob man ihr unterliegt oder nicht, ist eine Frage des Takts. Takt ist vielleicht die erste Gabe der dichterischen Einbildungskraft, genau wie es auch in der bildenden Kunst Takt gibt. Dabei geht es nicht um eine Form von Höflichkeit, künstlerischer Konvention oder auch Diplomatie. Es ist vielmehr ein besonderes Gespür dafür, ob man in einer bestimmten Situation der Wahrheit gerecht wird oder nicht. Wird man es nicht, fehlte der Takt, oder er war nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Das muss der einzelne Leser für sich entscheiden.
Aber ich denke nicht, dass man aufgrund Ihres Einwands als Autor vor dem Pathos zurückschrecken sollte. Man sollte sich allerdings sehr deutlich der damit verbundenen Gefahr bewusst sein. Wie Sie sich vorstellen können, war ich während der Arbeit an meinem letzten Buch To the Wedding in ganz besonderer Weise mit diesem Problem konfrontiert. Selbstverständlich begann ich diesen Roman nicht mit der Absicht, ein vollkommen düsteres Buch über diese furchtbare Krankheit zu schreiben, weil damit niemandem geholfen wäre. Zugleich wollte ich aber auch ohne Beschönigung zeigen, wie AIDS-Kranke lernen, mit ihrer Krankheit zu leben. Die Frage des Pathos beschäftigte mich also beim Schreiben dieses Buches in ganz besonderer Weise. Wie bei all meinen Büchern schrieb ich viele verschiedene Fassungen und überarbeitete einzelne Passagen wieder und wieder. Dennoch erschienen mir einzelne Abschnitte zuletzt immer noch zu ästhetisch, nicht unwahr, aber zu glatt, wenn Sie so wollen. Einiges mag mir entgangen sein, aber in der Regel strich ich sie alle aus. Aus genau dem oben genannten Grund. Ich denke, das ist die einzig mögliche Antwort, die ich Ihnen als Künstler und Handwerker auf diese Frage geben kann.

Am Erker: Es gibt noch eine zweite neue Veröffentlichung von Ihnen in Deutschland, der Text eines Theaterstücks über Goya. Können Sie dazu etwas sagen?

John Berger: Das Stück entstand in Zusammenarbeit mit Nella Bielski, mit der ich bereits vor zwölf Jahren A Question of Geography, ein Stück über den GULAG, geschrieben habe. Der unmittelbare Anlass, ein Stück über Goya zu schreiben, war für mich seine unglaubliche Aktualität. Er erlebte in seiner Zeit genau das, was wir heute erleben. In gewisser Weise versucht das Stück eine Antwort auf die Frage zu finden, was mit uns geschieht, wenn wir mit den unerträglichen Bildern im Fernsehen konfrontiert werden und dabei unsere völlige Hilflosigkeit und Ohnmacht verspüren. Es ist wie der Blick ins Antlitz der Medusa, dem wir vielleicht standhalten können oder der uns vernichtet. Genau darum geht es in diesem Stück.