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S. Fischer
Christoph Ransmayr

 
Rezensionen

Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg
 

Schmetterlinge in Tibet
Gerald Funk

Es ist das Vorrecht großer Autoren, zu weit zu gehen, Grenzen zu überschreiten, Grenzen der Moral, des guten Geschmacks und Grenzen der Form. Der Roman als das Genre der Moderne ist ohnehin bereits ein literarischer Hybrid. Er hat im Laufe seines Siegeszugs in der Welt der Literatur keine falsche Scham an den Tag gelegt, hat sich mit allem eingelassen, was ihm interessant erschien, hat sich bei den Ritterepen bedient, ist mit Reiseberichten in fremde Länder und exotische Abenteuer aufgebrochen, hat in seinem ungeheuren Stoffhunger den Wissenschaften über die Schulter geschaut und alle Gattungen - vom Flugblatt bis zum Fahrplan, vom Tagebuch bis zum Essay - in sich aufgenommen und durchprobiert. Wer also heutzutage literarisch noch Überraschungen bereiten will, muss womöglich weit zurückgreifen, zum Beispiel bis ins Epos, das der Roman als Form des Erzählens eigentlich beerbt hat. Seltsamerweise haben das immer wieder Autoren versucht. Und dieser Versuch geht, ob bei Melville, Döblin, Schaeffer oder Däubler, nicht selten mit dem Versuch einer Remythisierung der Moderne einher - und er geht nicht selten in die Hose. Döblins Manas von 1927 etwa galt Oskar Loerke noch als ein Werk, das "den Ruhm der deutschen Literatur in die Zukunft tragen" werde - selbst Musil war verzückt -, es war aber, um ehrlich zu sein, damals schon und ist heute kaum zu genießen. Umso verwunderlicher ist es, dass sich zwei der vermutlich wichtigsten zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren, Durs Grünbein und Christoph Ransmayr, kurz hintereinander in die prominente Schlange eingereiht haben. Grünbein lässt Descartes episch wiederauferstehen (Vom Schnee, 2003), und Ransmayr erzählt uns auf mehr als dreihundert Seiten die Geschichte zweier irischer Brüder, die in die unwirtlichen Regionen des Transhimalaya aufbrechen, um in den Gebirgen Osttibets einen bislang unentdeckten Berg zu suchen und zu besteigen, den vielleicht letzten weißen Fleck der Weltkarten.
Die Geschichte hebt tatsächlich an wie ein Epos ("Ich starb 6840 Meter über dem Meeresspiegel am vierten Mai im Jahr des Pferdes"), aber sie endet wie ein Roman ("Dann höre ich den Chor der Sturmgeräusche, höre das bedrängte, seufzende Haus [...], und schlafe beruhigt weiter, erleichtert, daß [...] ich bloß warten muß auf das Nachlassen des Windes, auf ein sanfteres Meer"). Ich könnte auch sagen: sie beginnt archaisch und endet psychologisch. Dazwischen erstrecken sich die Mühen der Eroberung des Unerforschten, jenes Phur-Ri, des 'fliegenden Berges', der bislang in den unzugänglichen Hochtälern Tibets verborgen war und unerreichbar scheint. "Vielleicht", so können wir lesen, "ist jenes Bedürfnis tatsächlich unstillbar, das uns selbst in enzyklopädisch gesicherten Gebieten nach dem Unbekannten, Unbetretenen, von Spuren und Namen noch Unversehrten suchen läßt - nach jenem makellos weißen Fleck, in den wir dann ein Bild unserer Tagträume einschreiben können." Der Weg dorthin aber ist voller Gefahren wie im klassischen Abenteuerroman - Abstürze in Gletscherspalten, einsame Nächte in Schneestürmen, Angriffe chinesischer Besatzer -, ein Weg, auf dem die Gegenwart erlitten und erlebt, zugleich aber auch die Vergangenheit erobert wird. Dabei verschränken sich die Auseinandersetzung mit dem Elementaren, mit Grenzerfahrungen im Angesicht von Tod und Untergang, und die psychologische Erkundung einer Kindheit zwischen Vater und Bruder in der sturmgepeitschten Abgeschiedenheit einer Insel vor den Küsten Irlands. Einer der beiden Brüder kommt bei der abenteuerlichen Reise ums Leben, der andere berichtet rückblickend und von kunstvoll arrangierten assoziativen Erinnerungen durchwoben über dieses Abenteuer, diese Sinnsuche im Eis, im noch unbeschrifteten Weiß einer Welt, die ansonsten durchweg vermessen und verplant ist. Er berichtet indes auch von der Vergangenheit, von der Sehnsucht und der Verblendung des Vaters, von dessen gescheiterter Karriere als irischer Freiheitsheld, vom Verlust der Mutter, die mit einem Fernsehtechniker auf und davon geht, vom schwierigen Verhältnis zweier Brüder, von denen einer der Macher, der andere der Grübler ist.
Es sind große Dinge, die Ransmayrs Roman verhandelt, aber der Text kann sich nicht recht entscheiden, was er denn nun sein will: Epos oder psychologischer Roman. Allein das Arrangement der Zeilen, die nicht im üblichen massiven Blocksatz erscheinen, sondern, ungleichmäßig gefüllt, den Flattersatz von Versen imitieren, zeigt das besondere Kunstwollen des Autors. Aber halb gefüllte Zeilen machen noch kein Gedicht, geschweige denn ein Epos. Das weiß auch Ransmayr selbst, der in einer Vorbemerkung allen Kritikern von vornherein erklärt, der "fliegende Satz" sei frei und gehöre nicht allein den Dichtern. Wenn man indes die dem Buch zu Werbezwecken beigefügte CD anhört, auf der Ransmayr Ausschnitte seines Buches liest, erkennt man die außerordentlich starke Rhythmisierung, die er im Vortragen seinem Text gibt. Er schlägt akustisch den eher weihevollen Takt, in dem die profane Prosa hier anzutreten hat. Ransmayr hat sich seit seinem ersten großen Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis immer in Gegenden gewagt, die geographisch, aber auch ästhetisch noch weitgehend unerschlossen waren. Auch in Morbus Kitahara und Das Ende der Welt suchte er nach Formen, die seinen Stoffen angemessen waren. So weit wie diesmal hat er sich jedoch bislang nur in seinem Erstling Strahlender Untergang aus dem Jahr 1982 vorgewagt. Auch dort haben wir - allerdings nur auf sechzig Seiten - die eher spärlich gefüllten Zeilen. Dort war die Welt indes in ein apokalyptisches Wüsten-Szenario getaucht, diesmal ins Licht einer vagen Hoffnung, das trotz allen Scheiterns aus der Vertikalen einfällt. Das dürfte nicht jedermanns Sache sein.
Es gibt, das soll nicht verschwiegen werden, in Ransmayrs neuem Buch großartige Szenen: gleich zu Beginn etwa, wo geschildert wird, wie ein Schwarm von Schmetterlingen, der von einem Luftzug in die eisige Höhe gerissen wird, dort erfriert und dann wie aschefarbener Schnee auf die Abenteurer niederregnet, die im Labyrinth des weißen Eises umherirren; oder jene Episode, in der sich die Wanderer einem Kloster in einem der Hochtäler Tibets nähern und von weitem unzählige Gebetsfahnen an den Hängen der gewaltigen Gipfel bemerken, die, wie sie später erzählt bekommen, die Berge gewissermaßen an die Erde nageln, damit die verletzlichen Menschen in ihrem Schutz und Windschatten überhaupt zu leben imstande sind und nicht mit der fruchtbaren Erde weggeblasen werden von einem Planeten, der rauh und unwirtlich ist. Die Berge sind Sternenteile, die sich einst hier niedergelassen haben, aber jederzeit wieder entschweben können. Das glauben zumindest die Nomaden, in deren Mitte die beiden irischen Flachländer den Weg in die Höhe antreten.
Allerdings finden sich in Ransmayrs Buch auch Schilderungen, da überschreitet die bewusste Archaik von Stoff und Ton die Grenze zum Kitsch. Leider ist dies mitunter in der ansonsten eher spröde und zurückhaltend geschilderten Liebesgeschichte zwischen dem Ich-Erzähler und Nyema, der Nomadin, der Fall. Von deren erster Liebesnacht müssen wir lesen: "[Ich] roch nur den Rauch und die Nachtluft in ihrem Haar, das auf mich herabfloß, als sie sich zu meiner Reiterin aufschwang und zuließ, daß ich mich an ihren Brüsten festhielt, so fest, daß ihre Milch, die doch Tashi ernähren sollte, auf meinen Hals, auf mein Gesicht tropfte und mich in einen Rausch versetzte." Brrrh! Hoffentlich ist der inzwischen zu Ende, und Ransmayr erzählt uns demnächst wieder Geschichten im Blocksatz.

 

Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg. Roman. 359 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2006. € 19,90.