Am Erker 69

Weinzierl / Wiegrefe (Hrsg.): Acht Tage, die die Welt veränderten

Roland Jahn: Wir Angepassten

 
Rezensionen
Alfred Weinzierl / Klaus Wiegrefe (Hrsg.): Acht Tage, die die Welt veränderten
Roland Jahn: Wir Angepassten
 

Geschichte liebt den Konjunktiv nicht
Steffen Roye

"Das Leiden, das man geduldig als unausweichlich ertragen hat, wird unerträglich, wenn seine Beseitigung plötzlich denkbar erscheint." Was Alexis Tocqueville 1856 über die Französische Revolution sagte, beschreibt ebenso gut die DDR der Jahre 1989/90. Acht Tage, die die Welt veränderten spannt den Bogen von der gefälschten Kommunalwahl am 7. Mai 1989 bis zur Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Einheit am 31. Mai 1990. Spiegel-Journalisten und Historiker beleuchten - in sich teilweise überschneidenden Beiträgen - Bekanntes, Unbekanntes, Kurioses und Unglaubliches dieser dynamischen Zeit. So erfährt der Leser, dass auch der Wahlbetrug mit deutscher Gründlichkeit vorbereitet und über die gefälschten Quoten in den Wahlkreisen vorab gefeilscht wurde; er liest, was der BND über die Vorgänge in der DDR wusste, oder - in einem minutiösen Bericht über eine nahezu unbekannte Tragödie - dass der wirklich letzte Tote des Eisernen Vorhangs nicht an der Berliner Mauer, sondern ausgerechnet an der ungarischen Grenze starb. Auch eine Einordnung in den historischen Kontext fehlt nicht.
Die Zahl der Veröffentlichungen zum Untergang der DDR ist inzwischen schier unüberschaubar. Das Buch ist deshalb empfehlenswert, weil der Leser einen ersten Überblick über wichtige Stationen der so genannten "Wende" bekommt (ein Begriff übrigens, den Egon Krenz prägte). Auf 368 Seiten findet sich Platz, Plauen als vergessene "Heldenstadt" zu würdigen (erste Großdemonstration, erste Forderung nach Wiedervereinigung, erster Runder Tisch der DDR) oder auf das Phänomen des Burnouts nach der ersten November-Euphorie einzugehen; anderes wie der Aufruf der Leipziger Sechs um Kurt Masur anlässlich der Demonstration am 9. Oktober fehlt. Interviews u. a. mit Michael Gorbatschow oder dem DDR-Korrespondenten des Spiegel, Ulrich Schwarz, sowie zwei Leitartikel pro und contra Wiedervereinigung bieten dem Leser ein facettenreiches Bild der Ereignisse.
"Die Geschichte liebt den Konjunktiv nicht." Mit diesen Worten wird Gorbatschow zitiert, und der Leser bekommt einen guten Überblick, warum der DDR - entgegen kursierender Verschwörungstheorien - keine Alternative beschieden war: Die noch heute als vorbildlich geltende Sozialpolitik war letztlich vom verhassten Westen durch Kredite finanziert. Der Bogen hin zu Angela Merkels Politikstil der diskursiven Stille und des Konsenses als Folge der friedlichen Revolution erscheint mir allerdings recht weit hergeholt. Eine Merkel-Schwalbe macht noch keinen Sommer. Viele Fehlentscheidungen und der Starrsinn der DDR-Führung führten zur Götterdämmerung - das zeigt das Buch fundiert und kurzweilig.
Um das Leben in der DDR geht es auch in Roland Jahns Buch Wir Angepassten. Schweigen - Mitlaufen  - Unterordnen - Mitmachen: Anpassung hat viele Facetten. Jahn zeigt in seinem Buch einige, doch geht es ihm auch um das Widersprechen, um das Überwinden von Angst. Zusammen mit Dagmar Hovestädt hat der Leiter der Stasiunterlagenbehörde ein Buch über den "Eiertanz", über "die Theateraufführung des Alltags" in der DDR geschrieben. Niemand will gern ein Anpasser genannt werden, doch Jahn zeigt, dass selbst Oppositionelle wie Lutz Rathenow oder Friedrich Schorlemmer sich hier und dort mit dem System arrangierten und Kosten und Nutzen abwogen. Er plädiert für Verständnis, weil "das Leben unter den Bedingungen der Diktatur Menschen oft vor unmögliche Entscheidungen stellt." Mehr noch: "Menschen haben auch ein Recht auf Anpassung", wo die Konsequenzen des eigenen Handelns unkalkulierbar verheerende Folgen haben.
Das Buch ist keine Abrechnung mit den Bonzen, sondern möchte aufklären. Dafür verknüpft Jahn persönliche Erinnerungen mit Erfahrungen von Freunden, Weggefährten, Fremden. Bekannte Ereignisse wie der 17. Juni 1953 oder die Ausbürgerung Wolf Biermanns tauchen als Wegmarken auf, aber auch das Fahnenschwenken zum 1. Mai oder die Gefährdung der Jugend durch Udo Lindenbergs "Sonderzug nach Pankow" werden thematisiert.
"Das Rückgrat der Diktatur [...] war das Schweigen. [...] Die Angst war der Kitt der Diktatur." Roland Jahn erzählt, wie er seine Angst und sein Schweigen überwindet und damit der ganzen Familie Nachteile und Ausgrenzung beschert. Seine Erinnerungen sind weniger Autobiographie als Reflektion, kein Sach- oder Faktenbuch, sondern eines, in dem viele Fragen aufgeworfen und vom Autor nicht beantwortet werden und stattdessen das Gewissen des Lesers prüfen: Wie hättest du gehandelt? Schließlich schlägt er den Bogen ins Heute: "Das Erzählen über die DDR - es ist auch eine große Chance für die nächsten Generationen, die es nicht erlebt haben. [...] es kann sie nachdenken lassen über die Einschränkung von Rechten heute." Diesem Anspruch wird Wir Angepassten gerecht.

 

Alfred Weinzierl / Klaus Wiegrefe (Hrsg.): Acht Tage, die die Welt veränderten. Die Revolution in Deutschland 1989/90. 368 Seiten. DVA. München 2015. € 19,99.

Roland Jahn: Wir Angepassten. 192 Seiten. Piper. München 2014. € 19,99.