Am Erker 71

Jan Wagner: Selbstporträt mit Bienenschwarm

Frieder von Ammon (Hrsg.): Jan Wagner

 
Rezensionen
Jan Wagner: Selbstporträt mit Bienenschwarm
Frieder von Ammon (Hrsg.): Jan Wagner
 

Virtuose Verse
Frank Lingnau

"Sieg für das Gedicht" titelte im letzten Jahr Der Tagesspiegel im Stile der Sportberichterstattung, als Jan Wagner für seinen Lyrikband Regentonnenvariationen den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Dass ein Gedichtband ausgezeichnet wurde, war ein Novum in der Geschichte dieses Literaturpreises - und eine (vor allem unter Kollegen) umstrittene Entscheidung. In ihrer Laudatio würdigte die Literaturkritikerin Meike Feßmann insbesondere die sprachliche und formale Virtuosität der Gedichte Wagners und plädierte dafür, der Lyrik insgesamt mehr Beachtung zu schenken.
Dass dem Preisträger sogleich eine größere Aufmerksamkeit zuteil wurde, verwundert nicht: Ein in diesem Jahr veröffentlichter Band mit ausgewählten Gedichten und eine Ausgabe der Reihe Text + Kritik mit Essays zum Werk des Lyrikers und Übersetzers zeugen von Jan Wagners gewachsener Popularität und vermitteln einen Einblick in sein Projekt einer Poetisierung der Welt.  Bei Jan Wagner wird alles zur Poesie, das Reservoir an Themen und Motiven scheint unerschöpflich. "als er dir beim wühlen / im schrank oder im wörterbuch / entgegenfällt, denkst du an höhlen- / bär und riesenhirsch, an den geruch // von mottenpulver, milben, / längst ausgestorben in dioramen; / muff, seine eine, pelzige silbe / mit dem gewicht von russischen romanen." So beginnt das in dem Text + Kritik-Band erschienene Gedicht "muff", in dem sich der Lyriker in kunstvollen Versen einem aus der Mode gekommenen Bekleidungsaccessoire widmet und es einer genauen poetischen Betrachtung unterzieht. Jan Wagners Gedichte über Kohlen und Koalas, über einen Nagel und ein Nashorn, über Mücken und eben jenen Muff beschränken sich nicht auf vordergründige Beschreibungen, sondern sie spielen eindrucksvoll mit Erinnerungen, mit Verfremdungen oder Assoziationen, mit Anklängen an Märchen und Mythen.
Der Kritik, Jan Wagner produziere "ubiquitäre Niedlichkeiten" (Georg Diez), begegnet Michael Braun in einem der Essays zur Dichtkunst des Lyrikers mit kenntnisreichen Bemerkungen zur Doppelbödigkeit der Gedichte und ihrer Konterkarierung von Idyllen. Und wer den Band Selbstporträt mit Bienenschwarm mit Gedichten aus fünfzehn Jahren liest, wird sich in der Tat davon überzeugen können, dass diese raffiniert und luzide komponierten Texte immer wieder verstörende oder überraschende Bilder enthalten. Das gilt auch für das Gedicht "gaststuben in der provinz": "hinter dem tresen gegenüber der tür / das eingerahmte foto der fußballmannschaft: / lächelnde helden, die sich die rostigen nägel / im rücken ihrer trikots nicht anmerken lassen."

 

Jan Wagner: Selbstporträt mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte 2001-2015. 256 Seiten. Hanser Berlin. Berlin 2016. € 19,90.

Frieder von Ammon (Hrsg.): Jan Wagner. 103 Seiten. edition text + kritik, München 2016. € 24,00.