Am Erker 73

Christine Wunnicke: Katie

Thilo Bock / Peter Wawerzinek: Das auffallend unauffällige Leben der Haushälterin Hannelore Keyn in der Villa Grassimo zu Wewelsfleth

 
Rezensionen

Christine Wunnicke: Katie
Thilo Bock / Peter Wawerzinek: Das auffallend unauffällige Leben der Haushälterin Hannelore Keyn in der Villa Grassimo zu Wewelsfleth
 

Kopfgeburt in Trance
Andreas Heckmann

Seltsam geht es zu im London der 1870er Jahre: Bedeutende Forscher mit imposanten Bärten obliegen hochspekulativen Theorien und versuchen mittels teils grotesker Apparate, die Geisterwelt naturwissenschaftlich dingfest zu machen. Langjährige Fehden werden mit Inbrunst geführt, Schüler und Anhänger in Stellung gebracht. Über all dem liegt Nebel. Und Glanz, Gloria und Talmi des Britischen Weltreichs. Aller ins Große zielenden naturkundlichen Ambitionen einer professoralen Männerwelt zum Trotz aber (es treten Mitglieder der ehrwürdigen Royal Society wie James Clerk Maxwell, John Tyndall und Michael Faraday auf) bewegen wir uns vor allem im Puppenstübchen einer Versuchsanordnung, deren Mitte das Haus von William Crookes ist, eines Physikers, Chemikers und Parapsychologen, der sich mit Leuchterscheinungen in Elektronenröhren, mit Radioaktivität und gegen Ende seines langen Lebens immer mehr mit Spiritismus beschäftigte.
Früh hat er ein ambivalentes Verhältnis zu denen entwickelt, die bei spiritistischen Sitzungen Verstorbene herbeirufen oder mittels in Trance gefallener Medien mit ihnen kommunizieren wollen, und nun wird ihm zum Zwecke der Entlarvung ein Medium ins Haus gesetzt, das es noch toller treibt und bereits einen enormen Ruf besitzt: Florence Cook, Tochter armer Leute aus dem East End, wird bei den Sitzungen in einem verschlossenen Holzschrank an Händen und Füßen am Boden gefesselt und lässt in Trance ein Wesen aus sich aufsteigen, Katie, die Tochter eines Bukaniers aus dem 17. Jahrhundert, die weit herumgekommen ist. Überdies soll Katie keine Halluzination sein, keine Täuschung, sondern womöglich ein anwesend abwesendes, lebendig totes Menschengeschöpf aus einer längst vergangenen Zeit, das eine gewisse Körperlichkeit hat und jedenfalls nicht mit Florence identisch ist, die sich unter Qualen auf dem Schrankboden windet.
Im Haus von William Crookes und seiner durchaus schwärmerischen Frau Nelly tragen sich bald rätselhafte Veränderungen zu. Geister scheinen zu walten, treiben jedoch keinen Schabernack, verstecken dem Hausherrn nicht die Brille. Es ist eher eine Verrückung der Wahrnehmung, die nicht nur Crookes und Nelly, sondern auch Assistent Pratt befällt, eine aparte Knallcharge mit Anklängen an Fausts Famulus Wagner. Und diese Verrückung, die Unschärfe am Rand des Blickfelds, die akustischen Halluzinationen und plötzlichen Denkzwänge unterminieren das naturwissenschaftliche Setting immer mehr, bis aus dem großbürgerlichen Haushalt des Professors ein Anwesen geworden ist, das an das Hotel in Stanley Kubricks Shining gemahnt, freilich ohne Gruseleffekte und ohne einen rasenden Jack Nicholson. Nein, es wird nicht gerast, die Welt zerfällt lautlos in Momente der Unbegreiflichkeit, die indes bei Nelly rauschhafte Freiheitsmomente stiften. In Florence und ihrer Katie, die sich nur bei Séancen zeigt, hat die sensible Gattin des emsig auf die Enttarnung der Scharlatanin sinnenden Crookes Verbündete im Luftreich der Imagination gefunden, und spätestens ab einer Speichersuche, bei der Nelly, von Klopfsignalen heraufgeführt, auf dem Dachboden nichts entdeckt und doch erschreckend fündig wird, sind wir nicht mehr in dieser Welt, sondern in der Wunnicke-Welt. Die ist zwar steil, aber frei von Fantasy und Eskapismus. Es flackern dort - so könnte man sagen - Irrlichter, die uns sehen machen.
Vor zwanzig Jahren noch war diese Welt von opulent in Szene gesetzten Figuren erfüllt (Fortescues Fabrik, 1998; Jet Lag, 2000), doch schon lange schreibt Christine Wunnicke in einem immer knapper werdenden, reduzierten, nahezu ausgezehrten Stil, der Disparatestes fast lässig zusammenführt. Oft ist es krude, abseitig, bei aller Kürze und Präzision versponnen, was sie uns erzählt, und man will es gar nicht wissen. Und bleibt doch dran, ihres Stils und seiner magischen Anschaulichkeit, seines wundersamen Sogs wegen, wie das folgende Zitat zeigen soll: "Nelly schlich in den großen Salon. Dort schien es zu pochen. Nichts war zu sehen, nur eine schmutzige Tasse; die dritte. Die stand ohne Untertasse auf dem kleinen Konsoltisch. Auch pochte es nun gar nicht mehr. Es schlackerte zart. Nelly sah, das Fenster war offen, und der Vorhang schlackerte davor. Sie nahm die Tasse und stellte sie, warum auch immer, hinter den Vorhang aufs Fensterbrett. Alle Vorhänge und Gardinen waren fest zugezogen. Warum? Etwas zirpte. Nelly drehte sich um. Sie stellte sich Grillen vor, die ins Haus eindrangen, bis alles mit ihnen bedeckt war, Teppiche, Tische, Konsolen. Gab es überhaupt Grillen in Camden Town? Nelly wusste es nicht. Wahrscheinlich war die Luft zu schlecht. Das Zirpen klang wie eine Spieluhr, eine sehr nahe, sehr kleine Spieluhr, die kaputt war, weshalb sie nur zirpte, nicht spielte. Nelly fröstelte. Wieder drehte sie sich um. Es war düster. Der schöne venezianische Spiegel neben dem Kamin spiegelte etwas, das nicht Nelly war. Sie fuhr herum. Jetzt zirpte es nicht mehr und pochte auch nicht, sondern sang. Nelly lauschte. Es sang Greensleeves. Sang es Greensleeves? Nelly begann leise Greensleeves zu pfeifen. Sie konnte pfeifen wie ein Mann. Das hatte sie als kleines Mädchen gelernt und nie wieder vergessen. Ach, die goldenen Jahre in Durham. Nelly sah, der venezianische Spiegel war gesprungen, ein langer, zarter, im Düsteren silbrig sich abzeichnender Sprung von der schönen Drahtarbeit des Rahmens bis in die Mitte des Glases. Langsam entfernte sich Nelly Crookes aus dem großen Salon. / Sie wanderte hinter Greensleeves her. Es war nicht Greensleeves. Es war wahrscheinlich überhaupt nichts, oder Ratten."
Wovon dieses Buch zudem erzählt, das ist die Geburt unseres modernen Medienalltags mit seinen Avataren, Cyberwelten, Skype-Orgien, Echtzeitdelirien aus dem Geist einer an den Rändern des naturwissenschaftlichen Blickfelds mit dem Spiritistischen liebäugelnden Gesellschaft. Die (Alb)Träume des Viktorianismus sind quasi unsere Wirklichkeit geworden, und diese Entwicklung begann kurz vor der Zeit, in der Katie angesiedelt ist, mit dem Siegeszug der Morsetelegrafie und der Verlegung eines Seekabels zwischen Europa und der Neuen Welt. Wie in ihrem großen Roman Serenity (2008) bedient sich Christine Wunnicke hier erneut eines Kobolds, doch diesmal kommt er nicht aus dem Internet, sondern entsteigt in Trance dem Kopf eines Mediums. Wunnicke erzählt also eine ähnliche Geschichte, aber komplett anders. Ein schöner Triumph der Obsession! Und eine artistische Meisterleistung, die obendrein poetologische Züge hat, weil das in Ketten liegende Medium im Schrank an die Autorin denken lässt, die unter Qualen Katie, nein Katie gebiert. Damit aber sind wir nicht mehr nur in der medialen Gegenwart oder im späten 19. Jahrhundert mit seinem Hang zu Spiritismus und Geistersehen, sondern in der Genie-Ästhetik von erst Sturm und Drang, dann Romantik. Der Künstler als leidender Christus. Das Medium als in der Schrankgruft Gefesselte. Katie als Triumph der Kunst über das Leben.
Das Feld der Geistererscheinungen traktieren auf sehr achtbarem Niveau auch Peter Wawerzinek und der Weddinger Brauseboy Thilo Bock (Senatsreserve, 2011). Beide sind nicht nur gut befreundet, sondern waren auch zweimal zu längeren Schreibaufenthalten in Wewelsfleth und haben dort - wie viele Döblin-Stipendiaten - die Haushälterin Hannelore Keyn innig ins Herz geschlossen. Nun ist sie tot, die Kette rauchende Frau Keyn, und macht keine Götterspeise mehr, in die statt Wasser Wodka kommt. Und doch wird sie für immer lebendig bleiben in den Geistergeschichten und -beschwörungen, die beide Autoren, assistiert von weiteren Berliner Schriftstellern wie Volker Kaminski, ihr und dem knorrigen Fachwerkhaus hinterm Elbdeich gewidmet haben, das einst Günter Grass gehörte. Dieses Buch ist ein gelungenes, mit vielen schönen Schwarzweißfotos von Susanne Bax versehenes Kompendium des Alltäglich-Fantastisch-Ironischen, denn Bock und Wawerzinek gelingt es augenzwinkernd, die schnöde Wirklichkeit hochkant zu stellen und ihr komische Schauerlichter aufzusetzen.

 

Christine Wunnicke: Katie. Roman. 176 Seiten. Berenberg. Berlin 2017. € 22,00.

Thilo Bock / Peter Wawerzinek: Das auffallend unauffällige Leben der Haushälterin Hannelore Keyn in der Villa Grassimo zu Wewelsfleth. Geistergeschichten. 152 Seiten. Verbrecher. Berlin 2016. € 20,00.