Am Erker 74

Sudabeh Mohafez: Kitsune

 
Rezensionen

Sudabeh Mohafez: Kitsune
 

Handeln um jeden Preis!
Simon Scharf

Bereits beim Blick auf die Titel der beiden Werke klingt der experimentelle Charakter ihres Erzählens an: Ähnlich wie Sudabeh Mohafez' 2010 publiziertes zehn-zeilen-buch. Kürzestprosa formuliert auch das im letzten Jahr erschienene Kitsune. 3 Mikroromane einen Appell zur doppelten Grenzüberschreitung: Zum einen hinterfragt sie die kategorische Abgrenzung von literarischem Text und künstlerischem Bild, zum anderen thematisiert sie, welche Grenzen sich ein Text selbst setzen kann und welche Rolle dabei die Handlung spielt.
Kitsune spielt mit einer markanten Spannung: Während die Prosa auf der einen Seite ein festes formales Strukturkorsett aufweist, löst sich die Transparenz der Handlung - je weiter man liest - merklich auf. Der erste Roman knüpft dabei an den Topos des mysteriösen Hauses an: Auf den Plan tritt ein unterbestimmtes Wir, das aus einer abseitigen Position ein sich je nach Auftreten der Figuren veränderndes Haus beobachtet. Personen gehen ein und aus, es erscheint ein Iwan, der mit dem Wir in freundschaftlicher Beziehung steht und es mit Informationen über das Haus füttert. Das Wir schläft eines Nachts ein und wacht in einem anderen Haus (dem mysteriösen?) wieder auf. Auch der zweite Roman erweist sich als handlungsbezogen reduziert: Vinzent, ein ehemaliger Alkoholiker, hat sich in die Berge zurückgezogen, besucht aber regelmäßig seine Familie im Tal. Er trifft eines Tages auf eine schneeweiße Polarfüchsin, derer er sich sukzessive anvertraut, um ihr letztendlich das tragischste Kapitel seines Lebens, den Tod des Bruders durch die eigene Mutter, zu offenbaren. Der dritte, auf einer einsamen Insel spielende Roman radikalisiert schließlich das skizzierte Paradox und beschreibt den Lebensalltag einer dort gestrandeten Gruppe: Während die Figuren im Unwissen über sich selbst und die Umgebung sind und ihren Alltag mit dem Sammeln von Muscheln, dem Spiel mit den Wellen, Kunst, Gespräch und ausgiebigem Schlaf füllen, hat die Erzählinstanz anderes für sie im Sinn: Sie ist regelrecht empört über deren Nichtstun, versucht Handlungen anzuregen, ist begierig nach Sensationen (Tod oder Sex) und verkörpert so das nach Brot und Spiele dürstende Publikum.
Eindrucksvoll verbindet Mohafez auf diese Weise das Nachdenken über die Wirkungsweise des Romans mit einer gesellschaftsrelevanten Reflexion: Ihr Text ist zunächst der Versuch, Handlung im Roman zu hinterfragen, die Frage aufzuwerfen, ob das Prinzip der Reduktion nicht auch umfangreiche Formen der Imagination beim Leser freisetzt, der selbstständig Zusammenhänge konstruiert und damit den Mikroroman zum (Makro-)Roman ausbaut. Er koppelt dies an die zweite sozialkritisch gefärbte Frage, warum unser Alltag, unsere biographischen Konstruktionen so stark an der Idee von Handlung, Fortschritt und Aktivität gekoppelt sind, und fragt damit auch nach der Bedeutung des Innehaltens und der Reflexion, nach Literatur!

 

Sudabeh Mohafez: Kitsune. 3 Mikroromane. Mit Illustrationen von Rittiner & Gomez. 132 Seiten. Edition Azur. Dresden 2016. € 21,90.