Am Erker 75

Rainer Wieczorek: Form und Verlust

 
Rezensionen

Rainer Wieczorek: Form und Verlust
 

Bildnot und Lebensnot
Simon Scharf

Der für seine Künstlernovellen bekannte ehemalige Literaturhausleiter Rainer Wieczorek hat auch seinem neuen Text Form und Verlust den Untertitel 'Novelle' gegeben, also eine "zyklisch angelegte Kurzform offenen Erzählens mit betontem Geschehnismoment" gewählt, um es mit dem Reallexikon deutsche Literaturwissenschaft zu sagen.
Zentrum des Textes ist der überraschende und für Irritationen sorgende Tod Eduard Senckmanns, Erbe des ehemaligen dörflichen Orgelbauunternehmens: Schon zu seinen Lebzeiten fungierte der frühere Arbeitsort der Familie als vierstöckige Künstler-WG, die Eduard, der neben seiner Geschäftstätigkeit auch als bildender Künstler und Maler in Erscheinung trat, zusammen mit dem Historiker Carlo und der im PR-Bereich einer Kultureinrichtung tätigen Verena bewohnte und betreute. Profitieren konnten davon vor allem Nachwuchskünstler, die auf dem großflächigen Areal eine vielfältige Plattform für sämtliche Formen des Ästhetischen entwickelten. Die Gegenwart der Novelle ist nun allerdings dominiert von fremden Stimmen: Nach dem deprimierten Auszug der beiden Mitbewohner Eduards greift die Sorge vor dem Verfall bzw. der Übernahme des Hauses durch die Stadt um sich - auch weil der Verstorbene kein Testament hinterlassen hat. Die Novelle stellt im Folgenden die von Musikstudenten in Angriff genommene Absicht einer kunstwirtschaftlichen Führung des Hauses (als Form des Gedenkens an Eduard) in den Vordergrund. Auch wenn alle Beteiligten die Unverkäuflichkeit der Kunstwerke Eduards zu garantieren versuchen, erweist sich das - auf einer Testamentsfälschung aufbauende - Vorhaben sukzessive als profitorientiertes Projekt, das dem von Eduard fokussierten Autonomiegedanken künstlerischen Arbeitens entgegengesetzt ist und bei dem touristische Infrastrukturmaßnahmen und Haus- bzw. Straßenumbenennungen nur die Spitze des Eisbergs bedeuten.
Nicht zuletzt weil der Text am Ende gewichtige Fragen an die Zuverlässigkeit der Rahmenerzählung aufwirft und Orientierungsverluste beim Leser bewirkt, entwickelt Wieczoreks Novelle eine untergründige Tiefenstruktur, die das Parabelhafte und Exemplarische der Gattung kunstvoll zur Disposition stellt. Mit der Kühle und Präzision einer subtilen und feinste Nuancen erfassenden Sprache, die lyrische und dramatische Elemente mitführt, diskutiert der Text die Funktionalisierung und Marktorientierung einer konzeptuell eigentlich zweckfreien Kunst als Spiel widerstreitender Stimmen - ohne jedoch tendenziös oder selbst instrumentell zu werden, womit sich mannigfaltige Interpretationsräume für den Leser entfalten. Dies mit den Mitteln einer oft stiefmütterlich behandelten Gattungsform zu betreiben, verdient Respekt und erweist sich als souveräner Kunstgriff.

 

Rainer Wieczorek: Form und Verlust. Novelle. 126 Seiten. Dittrich. Weilerswist-Metternich 2017. € 19,80.