Am Erker 76

 

 
Texte
Am Erker 76, Münster, Dezember 2018
 

Filip Wissert
Der flüsternde Wald

Manche sagen, Walderde schmecke nicht anders als Wiesenerde oder Felderde, ganz zu schweigen von Stadterde und dieser künstlichen Erde, speziell für Blumentöpfe und Gärten angefertigt, aber diesen Leuten muss ich entgegenhalten, dass sie offensichtlich noch nie Erde probiert haben, bei allem Respekt. Denn wenn sie einmal ihren Stolz oder Anstand oder Ekel oder einfach nur Etikette, all das jedenfalls, was einen davon abhält, sich einfach so Erde in den Mund zu stopfen, abschalten und überwinden würden, dann würden sie sehen, wie unglaublich wechselhaft diese ganzen verschiedenen Erden doch eigentlich schmecken. Wiesenerde schmeckt nach Blumen, nach Käfern, nach der Freiheit des Windes zwischen den Stängeln, nach Wildheit und Chaos. Felderde schmeckt zäh und bitter, durchdrungen von den ganzen Chemikalien, die von den Bauern dort verschüttet wurden, selbst wenn der Staat das eigentlich verboten hatte, aber welcher Bauer schert sich schon um den Staat. Felderde sollte eigentlich süß und salzig schmecken, zumindest in meiner Vorstellung, klebrig und fettig, so wie Pommes, Brot oder Spargel in Buttersoße schmecken, die immerhin alle aus dieser Erde kommen, aber die Chemikalien verätzen nicht nur die Schädlinge, sondern jeden Geschmack gleich mit, bis am Ende nur noch bittere Zähigkeit übrigbleibt. Stadterde schmeckt, nun, nach Stadt. So voll mit Gegensätzen, mit Geschichten und Abfällen durchdrungen, dermaßen zerwühlt und aufgerieben, durchsetzt von all den Menschen über ihr, dass nur ein absoluter Feinschmecker noch den Überblick behalten kann, und je größer die Stadt, umso heftiger die Geschmacksexplosion. So einen Feinschmecker will ich erstmal kennenlernen. Blumenerde ist, wie man es sich denken kann, blumig, süß, mit Kokosraspeln und Humus durchzogen, so unecht und Fake wie die Gärten, die sie fundiert, sorgfältig gezähmt und in adrette Beete gesperrt.
Nein, meine Lieblingserde war Walderde, denn sie schmeckte unverfälscht. Nach Regenstürzen und Sommerdürren, nach Fleiß, nach Mut, nach Anstrengung und nach dem mühsamen, aber unerschütterlichen Willen all seiner Bewohner, nach oben gen Himmel zu streben. Walderde schmeckte nach Zufriedenheit, nach Glück und Geborgenheit. Sie schmeckte nach Frieden und Ruhe.
Aber vielleicht war ich auch einfach nur voreingenommen, denn es war schließlich Walderde, unter der ich lag.
Ich hatte mir diese Erde nicht ausgesucht, aber letztendlich war ich froh darüber, dass es ausgerechnet Walderde war, die sich über mir auftürmte, und nicht etwa diese zähe Pampe auf den Feldern oder noch schlimmer: die Spießigkeit in Erdform in Suburbia. Vielleicht mag es makaber klingen, aber es war ein schöner Ort, begraben zu werden. Man glaubte es kaum, aber selbst die tiefsten, einsamsten Wälder, und meiner war besonders tief und einsam, wimmelten von Betriebsamkeit und Geschäftigkeit, als wäre diese augenscheinliche Ruhe, der Moment, wenn die Zeit stillstand und die Erde sich nicht mehr drehte, nur eine Fassade, um die eigentliche Welt dahinter zu schützen. An manchen Tagen, meist in der Dämmerung, kam ich mir vor wie inmitten des Zentrums der Großstadt, in der ich geboren, aufgewachsen und schließlich verschwunden war. Es brummte und klackerte um mich herum, Maulwürfe hämmerten ihre Tunnel, und niemals hätte ich gedacht, dass sie dabei einen solchen Höllenlärm veranstalten könnten. Waldmäuse schnurrten, Wildschweine steckten ihre Nasen tief in die Erde zu mir hinunter, auch wenn sie stets vor dem letzten entscheidenden Meter zurückschreckten, und Eichhörnchen suchten verzweifelt ihre Verstecke vom letzten Herbst, hungrig und aufgerieben von noch einem harten Winter. Anfangs noch vorsichtig und misstrauisch, wurden die Kreise, die sie alle über mich zogen, immer kleiner, und irgendwann machte ihnen meine Anwesenheit, sofern sie sie überhaupt bemerkten, nichts mehr aus.
Aber am liebsten waren mir die Bäume. Ganz am Anfang, wo die Erde noch nicht mal festgeklopft war und die Dunkelheit um mich herum so erdrückend wurde, dass nicht mal der hellste Stern am Himmel mir noch hätte helfen können, hörte ich sie flüstern. Vielleicht war es nur der Wind, eine Brise in der Nacht, die durch die unzähligen Blätter fuhr, aber in diesem Moment stellte ich mir vor, sie würden wegen mir flüstern, mir sagen, dass alles gut sei, egal was passiert war und noch passieren würde, ab jetzt stehen sie neben mir und passen auf mich auf. Ab diesem Augenblick, wo die Schaufel den letzten Schwung nahm, ausholte, vorstieß und das letzte Fleckchen auf meiner Haut von der Erde bedeckt wurde, ausgerechnet die Stelle an meiner Hand mit dem Tattoo, das einen Baum darstellen sollte, wie ironisch, von diesem einen Augenblick an, flüsterten sie, gehörst du zu uns. Im Herbst deckten sie mich mit Laub zu, und als die ersten Schneeflocken fielen und der Boden gefror, lag ich warm und geschützt unter einer rotgesprenkelten Decke. Im Sommer schützten sie mich mit ausladenden Kronen vor der brennenden Sonne, und ihre Wurzeln bewahrten mich im Laufe der Zeit vor den Räubern, die es selbst hier draußen gab, im tiefsten, einsamsten Wald.
Und sie schützten mich davor, entdeckt zu werden.
Anfangs hatte ich noch ganz andere Gedanken. Jede Nacht, jeden Tag, jedes Morgengrauen und jede Abenddämmerung, wenn die Eulen anfingen zu singen, ihre breiten Schwingen ausbreiteten und Unruhe unter die kleinen Waldbewohner brachten, wartete ich auf das Kratzen von Schaufeln, das Bellen von Hunden und das Rufen von den Menschen, die mich suchten, verbissen in ihrer Arbeit, aber aufgeregt, weil sie einen ersten Fortschritt erreicht haben könnten. Hätten sie das geschafft, wären sie gekommen, hätte ich ihnen von den Vorzügen der Walderde erzählen können und von den unterschiedlichen Geschmacksrichtungen, aber dass ich eigentlich doch ganz froh war, nun in künstliche, fein säuberlich sortierte Graberde zur Ruhe gebettet zu werden.
Aber niemand kam. Nichts kratzte, nichts schnüffelte mit feuchten Schnauzen, und keine Freude erfüllte den Wald. Man suchte mich nicht, oder vielleicht schon, aber nicht hier, nicht in der einsamsten Ecke der Welt, zu gut hatte man mich versteckt, zu weit hinausgebracht, zu tief vergraben und zu gründlich alles ausgelöscht. Ich brauchte lange, um zu akzeptieren, dass das Letzte, was ich sah, ein verstohlenes Aufleuchten einer einzigen Taschenlampe und das Zittern des Herbstlaubes über mir sein sollte, ehe die Dunkelheit auf mich fiel. Lange wartete ich, und lange wisperten die Bäume mir zu, sangen die Eulen für mich und grunzten die Wildschweine, und je mehr sich Stückchen für Stückchen von mir auflöste, umso stärker begann ich die Walderde zu schätzen und alle anderen Arten von Erden zu verabscheuen. Ich schmeckte die Zartheit von neuem Leben und die uralte Weisheit, spürte Kälte, aber vor allem Wärme, denn so tief unter der Erde wurde es nie wirklich kalt, irgendwo da unten pulsierte immerhin nichts anderes als die Welt. Von oben drang der Regen, gefiltert durch unzählige Erdklümpchen und so rein, dass ich bald kaum mehr nachkam, mit all den Geschichten, die von überall auf mich prasselten. Ich erfuhr von Stürmen, von Erdverwerfungen, von Überflutungen, von Dürren und von der grenzenlosen Liebe, die ich eines ereignislosen Tages plötzlich spürte und nicht mehr losließ. Ich war zufrieden, und die Bäume sorgten dafür, dass ich es blieb. Das Aufblitzen der Taschenlampe und das Beben der Blätter, als hätten die Bäume einen kurzen Moment vergessen zu atmen und holten nun panisch einmal tief Luft, war für immer auf meine Netzhäute gebrannt, selbst dann, als ich gar keine Netzhäute mehr hatte. Aber es würde nicht mein letzter Augenblick sein, diese Kenntnis brannte so tief in meinem Herzen, selbst wenn dieses bald ebenso nicht mehr existierte.
Heute warte ich immer noch. Während ich hier liege und verschwinde, angefangen mit den weichsten Partikeln, bis auch die härtesten Dinge, allen voran mein Gehirn - meine Eltern hatten schon immer gesagt, ich hätte einen ungeheuren Dickschädel - sich langsam zersetzen, den Geschmack der Walderde annehmen, bis ich auch ein bisschen wie Walderde schmecke, warte ich, höre zu, denke nach, über Entscheidungen und Enthaltungen, über meine Eltern, über Hass und Liebe, über Rennen und keine Luft mehr bekommen, weil mich das Seitenstechen so plagt, und manchmal denke ich auch daran, dass ich hätte schneller rennen sollen, oder aber warum ich nicht im entscheidenden Moment innegehalten und den Atem angehalten habe, so wie die Bäume in meinem letzten Augenblick.
Ich warte und warte, aber ich warte nicht mehr darauf, dass man mich findet.
Blätter rascheln und Käfer krabbeln. Der Wald wächst, und irgendwann, noch viele Zersetzungsrunden vor mir, viele kalte Winter und viele bunte Decken über mir, werde ich auch wieder den Himmel sehen, die Erde von mir stoßen, den Morgentau spüren und in der Trockenheit ächzen, meine Blätter strecken und genüsslich in der sanften Herbstbrise mitrascheln.