Am Erker 78

 
Texte
Am Erker 78, Münster, Januar 2020
 

Christine Steindorfer
Das immer gleiche Leben

Früher einmal, da wollte sie durch ihre Haut links und rechts beim Unterkiefer, dort wo der Knochen nach oben knickt und eine sanfte Einbuchtung unter das Ohr zeichnet, eine Nadel durchstechen. Sie wollte ihre Haut mit Angelschnüren nach oben ziehen, nicht zu stark, aber doch straff. Sie würde ja doch wieder erschlaffen. Sie wollte ihre Haut anheben, dadurch ein Kinn formen und im Knick fixieren. Nadel, Angelschnur, Jod - alles lag bereit an seinem Platz unter den Wattepads, im Spiegelschrank, im Badezimmer, im Haus, im kleinen Elternhaus. Früher war das, als die Pickel gegangen waren, das Gesicht aber blieb.
Jetzt stützte sie ihre Hände links und rechts am Waschbecken auf, lehnte sich weit nach vorne Richtung Spiegel und versank in ihrem Blick. Es waren ihre Augen, die sie im Leben verhafteten, ihr klares Blau, dunkel eingefasst, dazwischen silbrig glänzend, als würde in ihr eine Kerze brennen. Sie durchschaute ihre Augen und doch erkannte sie sich nicht.
An der Schulter ihrer Spiegelung vorbei, aus der halb geöffneten Badezimmertür hinaus, durch das staubige Gangfenster hindurch blickte ihr die schmutzig-gelbe Hausfassade vis-à-vis entgegen. Die Wasserlilie müsste gegossen werden. Sie führte ihren Blick zurück zu den Augen, sah durch sie hindurch und stand sich dabei so nah, dass ihr Atem das Gesicht beschlug.
Lass mich in Ruhe, zischte sie und die Zahnpasta schlug Blasen auf ihren Lippen. Ein wenig rutschte ab, malte ein tropfendes Rufzeichen auf ihr abschüssiges Kinn. Beiläufig strich sie es mit dem Handrücken weg, führte die Bewegung weiter und wischte ihre Hand beim Absenken ebenso beiläufig am Handtuch ab. Es war wie am Morgen davor, es war wie an allen Morgen davor: Lass mich in Ruhe zwischen den Zähnen, dann Zahnpasta, Hand, Handtuch.
Sei doch nicht so streng zu dir, hörte sie da sanft in ihr Ohr geflüstert. Lass mich in Ruhe, antwortete sie und riss ein Loch in die morgendliche Stille in Zimmer, Küche, Kabinett, mit Klo im Wohnungsverband, Bad vom Vormieter eingebaut.
Jeder Morgen ein Erwachen in das immer gleiche kleine Leben hinein. Augen auf, ein abfälliges 'Guten Morgen' zu ihr, Zahnpasta am Kinn, hinausgehen, heimkommen, als letzter Anblick wieder nur sie und Augen zu.

Das soll alles gewesen sein? fragte sie.
Muss es doch nicht, hörte sie da.
Aber was soll ich jetzt noch?
Probiere es einfach.
Es wird nicht funktionieren. Es hat noch nie funktioniert. Ich funktioniere nicht.
Was man nicht mit ganzem Herzen versucht, kann nicht funktionieren, hörte sie da.
Dann sag mir, wofür mein Herz schlägt. Wofür?
Wer in sich blickt, sieht bis zum Herzen.
Ach, lass mich in Ruhe. Du teilst Schläge aus und tarnst sie als Ratschläge.

Sie riss mit der Bürste an ihren Haaren. Früher glänzten sie blond, jetzt sah sie nur beige. Beige, das Wort quillt wie Speibe aus dem Mund, würgten ihre Gedanken. Ihre Hand um den Bürstengriff krampfte. Die Falten unter ihren Augen, dort, wo man Falten Augenringe nennt, wuchsen sich als Täler in die Haut ein.
Ihre Augäpfel verdrehte sie wie zum Schutz in die Augenhöhlen, holte mit der rechten Hand quer über ihr Gesicht aus, zog durch und zerschmetterte es. Ein Riss wanderte vom linken Auge quer über ihre Wange bis zum Mundwinkel, das rechte Auge war gespalten, ein drittes suchte von der Stirn herab nach einer Erklärung. Am Hals klafften kleine Löcher, als wäre er von Granatsplittern durchbohrt worden. Ihre Nase war versetzt, ein Ohr am kalten Steinboden zum Liegen gekommen.
Sie schob ihre Finger zwischen die Ritzen im Spiegel, umklammerte zurückgelassene Ecken und kratzte sie schließlich heraus, während sich die Kanten in ihre Haut gruben. Sie riss an größeren Stücken, ihre Hände die Werkzeugzange. Blut rann ihren Unterarm entlang, dort wo die Elle eine klare Kante formt. Sie schmierte Blut in ihr Gesicht. Ihre Stimme, sie schwieg.