Am Erker 88

die horen 296

Film-Konzepte 75

Schreibheft 103

 
Zeitschriftenschau 88
Andreas Heckmann
 

Film-Konzepte 75 widmet sich dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, der im Herbst 2022 mit 91 Jahren im Prenzlauer Berg gestorben ist. Am Ende des schmalen Bands stehen zwei Exposés zu DEFA-Filmen, zunächst zu Mann auf der Kante (1960), der nicht gedreht wurde, weil seine Geschichte nach dem Mauerbau nicht mehr erzählt werden konnte, auch nicht mehr opportun war, und ein erster Entwurf zu Solo Sunny (1977), der noch Szenen (vor allem Sunnys Kurzaufenthalt in Westberlin beim Vater) enthält, die in Konrad Wolfs Verfilmung (1980) nicht mehr auftauchen. Was sich zwingend vermittelt, ist die literarische Brillanz beider Texte, deren Lakonie und treffsichere Beschreibung in Bann schlägt. Man sieht die Filme beim Lesen, spürt die große Poesie gerade aufgrund des "einfachen" Settings, des "kleinen", unaufgeregten Zuschnitts der Probleme, in denen doch Einsamkeit und Sehnsucht, Tragik und Hoffnung unprätentiös zum Vorschein kommen. Kohlhaase ist zweifelsohne ein Prosaist von hohem Rang.
Und er hat – die Fans von Stilles Land (1992), Die Polizistin (2000), Gundermann (2018) oder In Liebe, Eure Hilde (2024) wissen es längst – in Laila Stieler eine kongeniale Nachfolgerin gefunden, die im Zusammenwirken mit dem Regisseur Andreas Dresen Filme geschaffen hat, die denen des Duos Konrad Wolf / Wolfgang Kohlhaase ebenbürtig sind. Stieler beschreibt einleitend auf sechs Seiten die für sie prägenden Qualitätsmerkmale der Drehbücher von Kohlhaase. Eine Verbeugung ist das, lesenswert auch, weil sie Selbstauskunft ist. "Ich bin mit seinen Filmen aufgewachsen", so Stieler, und es schadet nicht zu wissen, wo: im Haushalt der DDR-Dokumentarfilmer Barbara und Winfried Junge (Die Kinder von Golzow). Dann exemplifiziert sie die Poesie in den Drehbüchern von Kohlhaase etwa anhand der Charakterisierung: "'Sie steht im Türrahmen. Üppig und verlassen.' Zwei Sätze nur. Sie treffen ins Herz, weil sie Räume im Kopf öffnen über das Woher und Wohin dieser Figur, über ihren Reiz, ihren Trotz, ihre Schwermut." Und sie fragt: "Poesie bei Kohlhaase also durch Weglassen, Freilassen, Offenlassen, etwas nicht ausführen, nicht anfüllen, ausfüllen, vollstopfen? So einfach? Nein, nicht einfach." Beim Betrachten seiner Filme, so Stieler, habe sie oft das Gefühl, als sei das Staunen, warum Menschen so sind, wie sie sind, "noch spürbar, als habe er es mit hineingenommen in seine Erzählung. Als würde er mich verführen, seine Figuren mit der gleichen Neugier zu sehen wie er selbst." Menschen, "die die Front gewechselt" haben, "die zu eigensinnig sind, gefällige Formen zu schaffen", "die zu kompromisslos waren, den Erwartungen anderer zu entsprechen." Letzteres zeige sich gerade bei Sunny, die nicht einfach solo sei, sondern "auf eine Weise einsam ist, die sie nie loswird". "Einsamkeit aus Kompromisslosigkeit wird zum Gegenstand der Poesie in Solo Sunny", Kohlhaase bringe das in ihren Dialogen auf den Punkt. "Deine Füße sehen so zufrieden aus", sagt sie zu ihrem Liebhaber – für Stieler ein zentraler Satz dieses Films, der so oft auf das Zitat "Is ohne Frühstück. Is auch ohne Diskussion" reduziert wird.
Zwischen Stielers Einleitung und Kohlhaases Drehbuch-Exposés allerdings liegen neunzig Seiten filmwissenschaftliche Texte, zu deren Lektüre ich kaum raten kann. Befriedigender vermutlich, sich nach Laila Stielers luziden Einlassungen Berlin – Ecke Schönhauser … (1956) anzusehen, Berlin um die Ecke (1965/87), Ich war neunzehn (1968), den spröden Künstlerfilm Der nackte Mann auf dem Sportplatz (1974), Der Aufenthalt (1982) oder die Nach-Wende-Filme Die Stille nach dem Schuss (2000) und Sommer vorm Balkon (2005) - alles außerordentliche (Wieder)Begegnungen.
"Wunderbar, nicht zu wissen, wo das Bild endet, der Text beginnt, wunderbar die Überblendungen, Schnitte, die Übergänge in den Text, ins Bild ... So könnte das doch viel öfter sein, gegen alle hermetischen, gegen alle binären, gegen alle normativen Systeme" - so schwärmt Andreas Erb, der die horen 296 zum Thema "TEXTURES Bild Wort Bild" zusammengestellt hat, doch was auf 200 Seiten folgt, erfüllt die in der Einleitung geweckten Erwartungen nur dann und wann.
Großartig (und von Katrin Stangl eindrucksvoll diskret bebildert) Barbara Zoschkes Erzählung "Bei Arnolds", in der zwei arglos spielende Freundinnen ihre Mutter bzw. ihren Vater des gemeinsamen Ehebruchs überführen, ohne das recht zu kapieren, denn dazu sind sie fast noch zu jung. Eine Lärmschutzwand spielt eine Rolle, die Autobahn dahinter, Rudi Carrells "Am laufenden Band", ein Hammer und ein Stemmeisen, und der staubtrockene Humor der Erzählerin ist preisenswert: "Brit könnte den Hammer jetzt unter dem Pullover hervorziehen und Martina von hinten auf die Drahthaare donnern. Sie würde sofort umkippen und wäre tot. Niemand weiß, dass sie hierher gehen und 'Am laufenden Band' spielen. Martina könnte in Ruhe verfaulen." Chapeau!
Meisterhaft auch die farbigen Illustrationen von Klaus Zylla zu Texten von Peter Wawerzinek. Seine "Fünf Bilder. Über den Zustand der Welt" würde ich gern in großem Format an hohen Wänden sehen und mir eigene Texte dazu ausdenken. Zyllas Mischwesen aus Mensch und Tier, seine Fabelwesen und Albtraumgestalten sind voller Dynamik und Irrsinn, Kraft und Dämonie.
Von der Machart ganz anders, nämlich schwarz getuscht bzw. gezeichnet, ist der Comic "Trude & Dreibart" von Henrik Schrat, der sein eigener Illustrator und Geschichtenerzähler ist. Man muss sie gern haben, den "Neffen von Rübezahl" und Trude, "bauchfrei, zu viel am Handy". Wie idyllisch alles beginnt! "Als man endlich wieder vom Vogtland nach Bayern wandern konnte und von Thüringen nach Hessen und Europa zusammenwuchs, da sah es gut aus. Die Trude goss sich noch ein Wernesgrüner Bier ein, und beide fielen in einen herrlichen Schlaf." Um wie Rip Van Winkle in einer sehr veränderten Welt zu erwachen, in der die Spaltpilze wuchern. Und Trude, mit Punkfrisur am Boden kniend, erkennt: "Wenn sie wachsen, werden Angstagenten draus." Ganz einleuchtend ist das alles nicht, die Perspektive changiert eigenartig, auch die Zeitachse, alles wirkt traumhaft gestaucht und kommt in abgefeimtem Märchenton daher, aber man täusche sich nicht: Das ist sehr unterhaltsam, schlau und kritisch.
Und auch Dorothea Huber vermag mit "[Streiflichter]" zu begeistern. Ihre farbigen Collagen rechts erscheinen mir dabei nur als originelle visuelle Beigaben zum linksseitigen Textgetümmel. In einer nicht immer leicht zu lesenden, aber stets entzifferbaren, durchaus kalligrafischen Handschrift erzählt Huber absurde, abstruse, absonderliche Geschichten, die als Tagebuchnotizen daherkommen und deren obsessiver Charakter entzückt: "Wie gern, zum Beispiel, würde man in den aktuellen Krisen der Nation als Retter auftreten, in der deutschen Fußballkrise, in der deutschen Theaterkrise. Ein erhebender Gedanke, dem alsbald das Gefühl der Ohnmacht folgt. Weil man weder den Hamlet spielen kann noch den Ronaldinho, bleibt sie ungetan, die große Tat, und man schaut dem Unheil wieder einmal traurig und ferne zu. Kurzum: Man möchte diese neue Woche schon vergessen, bevor sie überhaupt angefangen hat. Ein Abenteuer muss her, und zwar sofort." Was schon als gesetzter Text angenehm bewegt, ja turbulent daherkommt, entfaltet im kalligrafischen Dauerbeschuss mit wechselnden Schriftgrößen und Schriften, mit Eingekasteltem, Unter- und Gestrichenem einen vollends wilden Eindruck – mit großem Gewinn zu lesen.
In Schreibheft 103 vermittelt Sven Koch in seinem Nachwort "Weiterschreiben, weiter gehen. Zugänge zu Iain Sinclair" eine Vorstellung von dem gewaltig ausufernden Werk des Mitbegründers des psychogeografischen Schreibens, bei dem der "Ort als Phänomen mit einer kulturellen Tiefenschicht aufgefasst wird, dessen unter dem Offensichtlichen verborgenes Substrat an Mythen, Geschichten und Kunstwerken sich mit frischem Blick und zu Fuß beim freien Schweifen abseits gängiger Wege immer wieder neu entdecken und erzählen lässt". Koch und Jürgen Ghebrezgiabiher wollen mit ihrer kleinen Sinclair-Auswahl "Sichtschneisen" öffnen, etwa mit dem Text "Austerlitz suchen. Auf Sebalds Spuren" (2013), der eine Wanderung durch Ostlondon beschreibt. Hier zeige sich, so Koch, "in Miniatur ein viele Texte Sinclairs prägendes Strukturprinzip: Eine real beschrittene Wegstrecke bildet den narrativen Rahmen für eine kulturelle, historische oder auch psychische 'Tiefentopografie' eines Orts, der gehend – und in genau diesem Modus der Bewegung wahrnehmend, Graffitis abschreibend, Notizen machend und fotografierend – sondiert wird."

 

die horen 296: TEXTURES Bild Wort Bild. 208 Seiten. Wallstein. Göttingen 2024. € 16,50.

Film-Konzepte 75: Wolfgang Kohlhaase. 129 Seiten. edition text+kritik. München 2025. € 24,00.

Schreibheft 103: Iain Sinclair, Gustaf Sobin u.a. 144 Seiten. Rigodon. Essen 2024. € 16,50.