Am Erker 80

Georges Manolescu: Fürst Lahovary

Sibylla Schwarz: Kritische Ausgabe. Band 1

 
Fritz Müller-Zech 80
Die Kolumne
 

Die neue Literatur stapelt sich im Hausflur. Der Paketbote hat sie dort hinterlassen. Ich könnte mal wieder vor die Wohnungstür gehen und alles reinholen, doch ich mag nicht. Gefangen im Käfig meines Ressentiments verweigere ich die Arbeit. Ruft jemand an und fragt, wo denn die versprochene Kritik bleibe, schnaube ich in die Sprechmuschel, ich hätte kein literarisches Interesse, sondern bestünde aus Literatur. Das hat Franz Kafka mal an Felice Bauer geschrieben, las ich gestern in der Zeitung. Mir gefällt das Zitat, zumal es wahrscheinlich echt ist, im Unterschied zu den vielen Kafka untergeschobenen Sinnsprüchen, die das sogenannte weltweite Netz verbreitet.
Leider bin ich eine Fälschung, bei der es nicht einmal zum zünftigen Hochstapler gereicht hat. Wäre ich ein Kerl wie der legendäre Tunichtgut Georges Manolescu, der als angeblicher Fürst Lahovary halb Europa zum Narren hielt und mit seinen 1905 erschienenen Memoiren einen Bestseller landete, hätte ich neben dem Vorsitz im Modellfliegerverein längst eine einträgliche Position im Literaturbetrieb erobert. So dachte ich wider besseres Wissen. Denn solche Planstellen werden schon lange nicht mehr vergeben. Und anders als Manolescu nach seiner Flucht aus Europa in die USA bin ich keinesfalls bereit, "die niedrigste körperliche Arbeit zu leisten", nur weil aus der Kritikerkarriere nichts geworden ist. Schließlich befinde ich mich im Rentenalter und bin mit meinem heroischen Kampf gegen Arthritis und Haarausfall ausreichend beschäftigt. Georges Manolescu hingegen war, als er die Stelle eines "Automobilputzers" bei einem New Yorker Millionär antrat, gerade mal 33 Jahre alt und hielt diese "ungewohnte, schmutzige, mühselige" Erwerbstätigkeit auch bloß einen Monat aus. Seine Karriere als Schriftsteller war ebenfalls nicht von Dauer. Keine drei Jahre nach Veröffentlichung seiner Erinnerungen, an deren Formulierung sein Entdecker und Verleger Paul Langenscheidt kräftig mitgewirkt haben dürfte, starb Manolescu und hinterließ, wie man dem Nachwort der hübschen Neuausgabe im Klassikerverlag Manesse entnehmen kann, neben einem "gefälschten Adelsbrief" jede Menge Anzüge, Seidenhemden und Lackschuhe. Das nenne ich Stil. Den ich leider bei mir vermisse.
Nicht nur die Kleidung betreffend.
Selbst mein Wunsch, als Meister der Ellipse in das große Verzeichnis nutzloser Informationen einzugehen, wird - es kann gar nicht anders sein - schon in der nächsten Zeile ein Opfer syntaktischer Unachtsamkeit. So ergeht es mir immer. Was mir fehlt, ist eine Regelpoetik für das Verfassen von literatur- und lebenskritischen Kolumnen. Warum sollte die Maxime, dass Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit sei, vor der Literatur haltmachen? Gleich ziehe ich ein Bändchen mit Barocklyrik aus dem Regal links neben meiner Werkbank und erfreue mich an kühner Metaphorik im strengen metrischen Korsett. Wie könne es sein, dass die Liebe blind sei, aber doch sehend? Groß und dennoch klein? Der früh verstorbenen Dichterin Sibylla Schwarz, vor vierhundert Jahren in Greifswald geboren, waren solche rhetorischen Fragen geläufig. Schon als 16-Jährige verfügt sie scheinbar mühelos über das gesamte Instrumentarium zeitgenössischer Dichtkunst, weiß sich auf Augenhöhe mit Martin Opitz, Autor des maßgeblichen Buches von der Deutschen Poeterey. Wer wie ich bislang mal gerade zwei Sonette dieser hochbegabten und selbstbewussten jungen Frau kannte, darf sich freuen, dass passend zum Jubiläumsjahr ihr Werk samt Briefen und anderen Dokumenten in einer zweibändigen kritischen Ausgabe erscheint. Dem wackeren Verlag Reinecke & Voß aus Leipzig sei Dank. Teil 1 liegt schon griffbereit auf meinem Beistelltischchen, ein Traum in Rot, sorgfältig ediert und annotiert von Michael Gratz.
Vorsicht, ich gerate ins Schwärmen. Das war nicht meine Absicht. Aber ich kann nicht anders. Zumal ich mir nun Verse der trefflichen Dichterin für mein Schlusswort ausborgen werde:
"Gefellt dir nicht mein schlechtes Schreiben / und meiner Feder edles Safft / so laß nur balt das Läsen bleiben / Eh dan es dir mehr unruh schafft; Das / was von anfang ich geschrieben / wird kein verfalschter Freund belieben."

 

Georges Manolescu: Fürst Lahovary. Mein abenteuerliches Leben als Hochstapler. Wohlfeile Ausgabe. Aus dem Französischen übersetzt von Dr. Paul Langenscheidt. Kommentiert von Horst Lauinger. Mit einem Nachwort von Thomas Sprecher. 446 Seiten. Manesse. München 2020. € 24,00.

Sibylla Schwarz: Kritische Ausgabe. Band 1 der Werke, Briefe, Dokumente. Herausgegeben von Michael Gratz. 267 Seiten. Reinecke & Voß. Leipzig 2021. € 40,00 (Hardcover), € 20,00 (Paperback). € 14,80.