Texte
Am Erker 57, Münster, Juni 2009
 

Timo Berger
Die Krakauer Dichter

Von meinem Freund Lothar Quinkenstein stammt der Gedanke, bei den Krakauer Dichtern handele es sich in Wirklichkeit um schlecht bezahlte Komparsen. Meinen Freund Quinkenstein, der in seiner Krakauer Zeit bisweilen an einer unvorhersehbaren Verschlechterung des Gehörsinns litt und deshalb genötigt war, seinem Gegenüber wie ein Taubstummer von den Lippen zu lesen, traf ich für gewöhnlich im Café Dym, einer dunklen und verrauchten Destille in der Straße des ungläubigen Tomas. Ich hatte die Gewohnheit angenommen, immer ein wenig früher als zur verabredeten Zeit am Treffpunkt zu erscheinen, um mir das Spektakel seiner Ankunft nicht entgehen zu lassen.
Quinkenstein kam auf seinen langen, schlaksigen Beinen, die nur ungenügend von einer fast durchsichtigen Stoffhose verhüllt waren, durch die Tür gepoltert, eine motorische Ungelenkheit, die in harschem Gegensatz zu seinen filigranen, fast damenhaft eleganten Fingern stand. Mit diesen streichelte er liebevoll - er war Schriftsteller und Lithograph - über die Manuskriptseiten, die sich auf dem Sekretär in seinem Arbeitszimmer stapelten und darauf warteten, von ihm "noch ein letztes Mal durchgesehen zu werden", wie er sich ausdrückte. Quinkensteins feinsinniger, durch nichts und niemanden einzuschüchternder Bleistift sprang von Absatz zu Absatz, verharrte manchmal über einer Wortkaskade und kringelte in konzentrischen Kreisen ihm noch ungenügend erscheinende Stellen kategorisch ein.
"Der Rhythmus", pflegte Lothar zu sagen, "ist das Wichtigste beim Schreiben. Heute habe ich nur gestrichen, Pausen gesetzt und Kommata mit Bedacht verschoben", entließ er schnaubend in meine Richtung, während sich sein erhobener Zeigefnger daran machte, einen wohltemperierten Kirschwodka in doppelter Maßeinheit zu bestellen. "Wollen Sie auch einen?", fragte er mehr aus Anstand als aus echter Bereitschaft, mir durch die Unbilden der ausschließlich auf Polnisch verfassten Getränkekarte zu helfen.
Das Café Dym, eine legendäre Institution im Krakauer Nachtleben, unweit des Rynek, war voller als sonst an Wochentagen: Eine Gruppe laut mit den Hufen scharrender Briten drängelte sich um die verspiegelte Bar, auf der Galerie stanzten verliebte Pärchen Herzen in das auf den rustikalen Holztischchen verschüttete Kerzenwachs, und im schiefen Winkel hinter dem Eingang hatten Lothar und ich noch ein Plätzchen ergattern können, an einem wackligen Tisch, der auf einer leichten Erhebung, einer gezimmerten Empore stand und nur deshalb nicht umkippte, weil Lothar, nachdem er mir aus dem Lodenmantel geholfen hatte, seinen italienisch geschwungenen Lederschuh beherzt unterschob. Rings um uns saßen gotisch verkleidete Männer mit nach oben toupierten Strähnen. Viele von ihnen hatten ihren Bierhumpen zur Seite gerückt, um Platz für ihre zerfledderten Kladden zu machen.
Nie sah ich mehr Leute in dunklen Cafés und Kneipen schreiben als in Krakau. Oft sprachen Lothar und ich mit ernster Miene über die Allgegenwart der sensiblen Dichtkunst, bis wir beide in Lachen ausbrechen mussten. Meine Rolle war es dann zu sagen: "Aber Lothar, die Liebe der Polen für dunkle Räume" - selten war eine Bar mit mehr als einer Handvoll fackernder Kerzen beleuchtet - "und ihre Liebe zu schwülstiger Poesie stehen sich keinesfalls im Wege, stehen vielmehr im Einklang miteinander. Was mag bei diesem Schreiben mehr herauskommen als eine gekrakelte Ode an die Trunkenheit, die sich am nächsten Tag kaum mehr entziffern lässt, ein Vierzeiler, dessen Versmaß mit der Bierbestellung vollends harmoniert."

* * *

Lothar verstand meinen letzten Satz nicht, bat mich, ihn Wort für Wort zu wiederholen. Hick. Ich sah, wie er seine Augen mühsam zusammenkniff, wie er sich über den Tisch zu mir beugte, mir so nahe kam, dass er mir fast in die Lippen beißen konnte. Kein unangenehmes Gefühl, sein Gesicht an meinem zu spüren, doch wir waren in Polen, die Leute starrten schon zu uns herüber, und ich war kurz davor, hysterisch aufzufahren - "Aber Lothar, was machen Sie denn da?" -, als mir wieder einfiel, dass er gesagt hatte, sein Gehörsinn habe sich in den letzten Tagen (ganz sicher des unerwarteten Wetterumschwungs wegen) außer der Reihe verschlechtert. Wenn es so weitergehe, sagte Quinkenstein und federte in seine ursprüngliche Sitzposition zurück, werde er noch taub werden in dieser Stadt, eine bittere Ironie, vernehme man doch hier selbst zu Hauptverkehrszeiten noch das leise Magengrimmen der auf Engelsfüßen durch die Stadt eilenden Passanten. Dass man aber trotz der Leichtigkeit ihres Schritts dennoch allenthalben mit ihnen zusammenstoße - in ihrer Selbstgenügsamkeit wichen sie Entgegenkommenden grundsätzlich nicht aus -, stünde auf einem anderen Blatt ...
Die Krakauer Dichter hingegen - die meisten schlecht zu Fuß, einige von den Spätfolgen der Kinderlähmung gezeichnet - seien in Wahrheit Komparsen, behauptete Quinkenstein in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Stundenweise seien sie unter Vertrag genommen vom Fremdenverkehrsamt, damit sie im Sommer auf den öffentlichen Plätzen, der Planty und den Ryneks, bei widrigem Wetter in den Cafés ihre Kunststückchen vorführten. Blasse, pockennarbige Gesichter, ganz anders als das gemeine Volk, kurz geschorene und vor Muskeln platzende T-Shirts, eingehakt bei knapp unter den Achseln getragenen Designertaschen. Unter den Tuchhallen, fuhr Lothar fort, gebe es weitläufige Magazine, Unterwelten, in denen sich die zartfühlenden Dichter mit den unentbehrlichen Requisiten eindecken könnten - Schiebermützen, Mäntel aus Schurwolle, Schreibzeug und Quarthefte, Schablonen für unwahrscheinliche Dreitagebärte, silberne Zigarettenetuis und Absinthflaschen.
Für diejenigen unter ihnen, denen die Schauspielerei keine zweite Natur sei, gebe es einen Schnellkurs zum Saisonwechsel, der - anfangs umsonst angeboten - wegen der überwältigenden Inanspruchnahme der vergangenen Jahre mittlerweile nur gegen ein paar Groszy ("Groschen") besucht werden könne. Regel Nummer eins, so Lothar, sei, den Blick immer auf vor einem liegendes Papier zu richten. Wer dazu neige, den Blick zu heben, der solle keine anderen Menschen direkt ansehen, sondern teilnahmslos ins Leere starren wie ein Debütant auf seinem ersten Ball. Regel Nummer zwei hatte ich schon selbst verinnerlicht: Wenn dich jemand fragen sollte, was du schreibst, antworte immer ausweichend, führe die Schönheit der Stadt an, das explodierende Frühlingserwachen nach einem strengen Winter, erzähle ausschweifend von Jamben und Trochäen, und ganz wichtig: Schimpfe über Warschau, diese Stadt, ach was, dieses zufällige Konglomerat von lieblos gemauerten Mietskasernen und ein paar Dutzend offiziellen Stellen hat keine Kultur, herrje! "Auf diese Weise, meine Liebe, können Sie Ihr gelocktes Köpfchen elegant aus der Schlinge ziehen", versprach Lothar.
Wie nach unserem letzten Treffen, als Quinkenstein und ich beschwipst den Heimweg antraten, zu Fuß, der Himmel weiß warum, anderthalb Stunden an der Hauptstraße entlang, auf der uns zu dieser Nachtstunde ausschließlich Trucks auf ihrem Weg nach Kattowice den Ruß um die Nasen bliesen, ich bald meine hochhackigen Schuhe in die Hand nahm und barfuß ging und mich irgendwann an einem Maschendrahtzaun wiederfand, wo ich erfolglos versuchte, die Verschraubung eines Straßenschildes zu lockern, und dann ansetzte, darauf ein wehmütiges Sonett zu schreiben, und Quinkenstein, der Weitsichtige, währenddessen generös Schmiere stand - er war in der kleinen deutschen Gemeinde Krakaus berühmt dafür, dass er ohne große Anstrengung um die Ecke gucken konnte.
Wir gerieten dennoch in die Fänge wenn nicht der Gemeindecarabinieri, so doch eines privaten Sicherheitsdiensts. "Was macht ihr da, Milchgesichter", brüllte uns ein Zweimetermann an, der einen riesigen Scheinwerfer auf uns richtete. "Jamben und Trochäen", brach es stotternd aus mir hervor. Seltsamerweise konnte ich für einen Augenblick Polnisch verstehen und sogar fließend sprechen - ein nie wiederkehrendes Wunder! Der Mann musterte uns, strahlte mit dem Scheinwerfer abermals in unsere Gesichter. Ob es diese Worte waren oder ob Lothars generös spendierte Zloty den Wachmann schließlich von unserer Unschuld überzeugten, ist im Nachhinein nicht mehr auszumachen.

* * *

Aber nicht nur die Dichter, sagt Quinkenstein, auch die Klezmerjuden, die am Marktplatz aufspielen, die Komparsen, Maskentänzer und Drachen, die sich anbieten, Besucher der Stadt einhändig in den Krakauer Himmel zu heben und sich dabei fotograferen zu lassen - alle werden bezahlt vom Unterministerium für Tourismus. Er sei 1990 zum ersten Mal hier gewesen, sagt Lothar, da habe es noch keinen einzigen öffentlich sichtbaren Dichter gegeben, da hätten im Café Singer noch die Schneiderinnen an den surrenden Nähmaschinen gesessen. Da war Polen noch Polen, der Papst der einzige bezahlte Mime, und in der Wisla, ehedem Weichsel, dümpelten die Schiffswracks.
Als ich diese Ausführungen zum ersten Mal vernahm - den charmanten Quinkenstein, der mit dem Brustton der Überzeugung sprach -, war ich neu in der Stadt und geneigt, ihm jedes Wort ungeprüft zu glauben. Von Anfang an herrschte zwischen uns eine unausgesprochene Hierarchie, nicht nur, weil Quinkenstein ein wenig älter war und es mir (auch ich habe eine Schule für höhere Töchter besucht) nicht anstand, das Sie gegen eine vertraulichere Anrede zu tauschen, sondern auch, weil Quinkenstein, anders als ich, des Polnischen in seinen Variationen durchaus mächtig war. Wo er eine Sprachschwelle leichtfüßig überschritt, rannte ich mit dem Kopf gegen eine Wand. Während ich meinen angeschlagenen Schädel zwischen den Händen hielt, parlierte Quinkenstein ohne Fehl und Tadel in einem so distinguierten wie taubenhaft gurrenden Poznaner ("Posener") Zungenschlag mit Putzfrauen und Polizisten, Päderasten und Priestern. Mir bereitete schon der Gedanke, an einer vorstädtischen Wursttheke hundert Gramm feinen Kochschinken bestellen zu müssen, Schweißausbrüche. Die fremde Sprache hat mich zur Vegetarierin gemacht, keine innerliche Überzeugung. Äpfel und Birnen liegen immer in der Auslage zur Selbstbedienung, du musst niemandem mit einem durch die Luft schneidenden Messer Rede und Antwort stehen. Doch das ist eine andere Geschichte.

* * *

Heute weiß ich, dass Lothars Gedanke nicht auf alle, die schreiben, zutrifft. Ich habe Darek Fox kennen gelernt, einen echten Krakauer Dichter, humorvoll und, wo man ihn trifft, von Groupies umringt. Dennoch hält er einen Oberschenkel frei, damit sich sein Ameischen draufsetzen kann, mein liebstes Ameischen, so nennt er mich. Fox, der in einem seiner besten Gedichte "Postfeminismy" auf "Fantasma" und "Volkswagen" auf "Virginia Woolf" reimt, einer, gegen den Lothar und ich nur Komparsen sind, ausgehalten von einer deutsch-polnischen Stiftung, die sich den Kulturaustausch auf die verlotterten Fahnen geschrieben und bislang doch nur einsame Herzen über die Grenzen geschmuggelt hat. Doch auch das ist eine andere Geschichte.

* * *

Von meinem Freund Lothar Quinkenstein stammt auch die leidige Einsicht, dass es sich bei den Krakauer Ärzten zwar nicht um Komparsen, aber doch um mit äußerster Vorsicht zu genießende Zeitgenossen handelt. Quinkenstein, der in Gesundheitsdingen zur Vorsicht neigte, das polnische Leitungswasser nur nach dem Durchlauf durch ein aufwändiges Filterungssystem zu sich nahm und sich Schwarzbrot und Wurst- und Käseaufschnitt im Expressversand aus Deutschland kommen ließ, musste dennoch eines Tages auf ihre Dienste zurückgreifen. Ein stechender Schmerz im Unterleib trieb ihn in ihre Hände.
Ich begleitete ihn zu Dr. Tobias Melanowski, einem Internisten, der, uns als Koryphäe empfohlen, eine Praxis in der Nähe des Rynek unterhielt. Durch ein Labyrinth von Hinterhöfen gelangten wir schließlich in einen äußerst schmalen und feuchten - allem Anschein nach von Schimmel befallenen - Flur, wo man uns zuerst und ohne Gegenleistung sechzig Zloty abknöpfte und dann bat, auf kotzgrünen Klappstühlen Platz zu nehmen. Nach einer Weile öffnete sich eine Tür, und ein kleines, glatzköpfges Männlein erschien. Ein Dr. Melanowski sei ihm in keinster Weise bekannt, sagte das Männlein und wollte uns umgehend wieder wegschicken. Wir verwiesen abwechselnd auf den Zahlschein und auf Lothars Unterleib, während Quinkenstein die Geste mit theatralischem Gewimmer eindrucksvoll untermalte, bis das Männlein ein Einsehen hatte und uns in das winzige Sprechzimmer bugsierte, sich dabei allerdings - obwohl wir unseren Blick von ihm nicht abwandten - auf wundersame Weise in Luft auföste.
Bald tauchte ein ebenso kleines Männlein unangekündigt auf, das wir zuerst für dasselbe hielten, das sich dann aber als Dr. Melanowski entpuppte und uns auf Deutsch fragte: "Wo drückt denn der Schuh?" - "Hier", sagte Quinkenstein und wies fast schon ungeduldig auf seinen Bauch. "Das haben wir gleich", sagte das Männlein, "machen Sie sich's nur bequem auf der Krankenliege", und schlüpfte gleichzeitig behände in einen Arztkittel, von denen in einer Ecke des Raums gleich fünf auf einer Stange hingen, jeder mit einem anderen Namen versehen. Allem Anschein nach handelte es sich um eine Gemeinschaftspraxis. Nachdem Quinkenstein ausgiebig abgetastet worden war und dabei ein paarmal hatte aufschreien müssen ("Tut es hier weh?" - "Ja." - "Hier?" - "Ja." - "Und hier?" - "Au, ja, verdammt!"), stand die Diagnose fest: eine nicht auf die leichte Schulter zu nehmende Nierenkolik. Dagegen, sagte der Doktor, helfe nur: viel trinken, eine Woche lang ausschließlich Wasser und Bier, und ab und zu ein Zäpfchen.
"Ein Zäpfchen?", fragte Quinkenstein ungläubig - diese Behandlungsmethode kannte er nur aus Kindertagen. Der Doktor nahm das Blatt, das eigentlich für die Abrechnung mit der Krankenkasse vorgesehen war, und zeichnete einen länglichen Gegenstand, der an ein Kondom erinnerte, und ein menschliches Hinterteil im Querschnitt. "Da muss das rein", sagte er wieder auf Deutsch und verdeutlichte seine Anweisung mit einem Pfeil. Dann ließ er Lothar noch mal sechzig Zloty bezahlen und führte uns freundlich, aber bestimmt zur Tür. Die Hand reichte er weder Lothar noch mir zum Abschied. Wir hatten kaum die Schwelle überschritten, da spürten wir schon einen eiskalten Luftzug im Nacken.

* * *

"Ich bin Agnostiker", war das Erste, was Quinkenstein sagte, als wir uns wieder auf der Straße befanden. "Ich glaube weder an die Wirkung von Zäpfchen noch an die Schädlichkeit von Filterzigaretten." Quinkenstein stand in den folgenden Wochen seine Wasser- und Bier-Diät tapfer durch und erholte sich. Ob er auch die Zäpfchen wie vorgeschrieben einnahm, habe ich ihn nie gefragt. Ich vermute, er tat es, rein aus Verlegenheit seinem Badspiegel gegenüber, nicht.

* * *

Als Quinkenstein schon längst nach Deutschland zurückgekehrt war, verschlug es mich eines Abends aus Zufall wieder ins Café Dym. Am Tresen standen wie immer die Briten, auf der Galerie saß ein Junge, den ich vor Wochen noch mit einer jungen Frau gesehen hatte, der Tisch hinter der Tür war bereits besetzt. Ich stellte mich zu den Briten, ließ mich auf einen Wodka einladen und machte neue Freunde (ich weiß wirklich nicht, worüber wir uns unterhielten, aber es tat so gut, mal bedingungslos mit Unbekannten ins Gespräch zu kommen - ich glaube, ich hatte meine Haare an dem Tag weder gewaschen noch gekämmt). Ich dachte, irgendwann musst du aufhören, traurig zu sein. Lothar kommt nicht wieder. Lothar schreibt nicht. Für Lothar warst du nur eine Weggefährtin, jemand, dessen Telefonnummer man auf den hintersten Seiten des Kalenders vermerkt, Seiten, die man herausreißt, wenn man ein Stück Papier braucht, um im Schein einer fackernden Kerze ein Gedicht zu schreiben.