Texte
Am Erker 57, Münster, Juni 2009
 

Thomas Glatz
Arbeitselefanten haben Mittwochnachmittag frei, aber das glaubt mir ohnehin kein Mensch (Auszüge)

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Gestern sind wir spät nachts hier in Bhuj - einer Stadt zwischen Bhujidungar und Hmisarsee im äußersten Zipfel Gujarats - angekommen. Bhuj, die ehemalige Hauptstadt des Prinzentums Kutch, liegt ungefähr 369 km von Ahmedabad entfernt. In Gandhidam mussten wir nach fünfzehnstündiger Fahrt umsteigen und in einen schmutziggrünen, rüttelnden, staubigen Kleinbus einsteigen. Kaum waren wir aus dem Ort abgefahren, begann es zu regnen und hörte nicht mehr auf. Nachts um zwei standen wir knöcheltief im Regenwasser einer engen Gasse, und es gelang uns erst nach einer geschlagenen halben Stunde und nur mit Hilfe eines Taxifahrers und einiger Anwohner, den auf einer Matte am Boden schlafenden Hotelboy durch lautes Zurufen aus seinem Tiefschlaf zu reißen und ihn dazu zu bringen, das Sperrgitter des Hoteleingangs hochzuziehen und uns Obdach zu gewähren. Den ganzen Vormittag ist es nun schon trüb und regnicht. Der Himmel wie gemalt. Wie ein von Arnulf Rainer expressiv übermaltes schwarzes Malewitsch-Quadrat. Es regnet Bindfäden. Was für ein Tag.

Von einem Kunstkartendruck an der Wand starrt mich eine mit einem Wollknäuel spielende Katze an. Sie schaut mich mit ihrem unergründlich durchdringenden Katzenblick so an, wie einen eine echte Katze im normalen Leben ansieht. Die Kunstdruckkartenkatze hat ein weißes Fell und schwarze Ohren. Ich will heute nicht vor die Hoteltüre gehen. Meine festen Schuhe sind noch nass und klamm, und meine Sandalen sind mir in "M. früher B." geklaut worden. Eine. Oder ich habe sie verloren. Gleich am ersten Tag unserer Reise. Die andere Sandale habe ich dann weggeworfen.

Als Oliver vor ein paar Jahren in Indien war, hat er sich eine Geheimsprache ausgedacht, um sich mit seiner Reisegefährtin Bettina zu verständigen. Er behauptet, sobald man ein deutsches Wort - z. B. "Taxi" oder "Kamelsafari" - sagt, kämen ein halbes Dutzend indischer Schlepper, die einen zu einem Taxi bringen oder jemanden kennen würden, der jemanden kennen würde, der im Kameltouristenausflugsgeschäft tätig sei. Das Deutsche sei dem Englischen zu ähnlich, und viele Inder seien sprachbegabt und geschäftstüchtig. Man könne sich nicht in Ruhe auf Deutsch unterhalten, ohne dass ein Inder mithöre und einem gleich etwas aufschwatzen wolle. "M. früher B." ist eine Vokabel aus dieser selbsterfundenen Geheimsprache und meint "das vor kurzem von den Indern in Mumbay umbenannte Bombay". Die Vokabeln "Höckertierausflug" für "Kamelsafari", "dreirädrige Kraftdroschke" für "Riksha-Taxi", "Rechnernetzgaststube" für "Internetcafé" und "der Einsame" bzw. "der einsame Planet" für den Reiseführer "Lonely Planet" kamen bisher nicht über meine Lippen. Aber "M. früher B." (sprich: "Emm Punkt früher Beh Punkt") sage ich häufig.

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Die deutschen Touristen erkennt man an den vieltaschigen Reisewesten und den Schuhen. Das hat mir einmal ein neuseeländischer Traveller im Vertrauen erzählt. Deutsche Touristen tragen immer Birkenstocksandalen mit weißen Tennissocken! Ich bin schon fast ein Inder mit meinen mausgrauen Flipflops. Während die ganze arabische Welt über die Saudis witzelt, weil dort alle Männer nur Ledersandalen tragen, läuft ganz Südostasien in Flipflops herum. Selbst die Bergvölker in Nordthailand, die Meo, die Karen, die Akha laufen in Flipfops durch den Dschungel und steigen in Flipflops auf ihren Bergen herum. Auch die Bauarbeiter tragen Flipflops. In buddhistischen Tempeln muss man grundsätzlich die Schuhe ausziehen, weil man sich mit Leder Buddha nicht nähern darf. "Buddha mag keine Lederwaren. Für die Lederwarenerzeugung mussten Tiere sterben", klären einen die Einheimischen auf. Selbst wer Plastikschuhe trägt, muss die Schuhe ausziehen. Man pilgert dann barfuß zu verwilderten, halbverfallenen historischen Stupas, durchs Gestrüpp, über verwitterte Steinwege, wo Schlangen, Skorpione, Brennnesseln, Disteln, Glasscherben, Fußpilz und alles Mögliche lauern. Aber so ist das. Andere Länder, andere Sitten. Da fotograferen die barfüßigen Touristen dann die barfüßigen Einheimischen, die um einen Brunnen stehen und den acht Marmorbuddhas im Brunnenbecken Wasser auf den Kopf gießen und Fürbitten beten. Sehr andachtsvoll ist das. Dem Montagsbuddha eine Kelle über den Kopp, dem Dienstagsbuddha, den zwei Mittwochsbuddhas, dem Donnerstags-, dem Freitags-, dem Sonnabend- und dem Sonntagsbuddha. Bei einer Achttagewoche gibt es logischerweise zwei Mittwoche, den Mittwochvormittag und den Mittwochnachmittag. Die Mittwoche werden von Elefanten symbolisiert, einem Elefanten mit und einem ohne Stoßzähne. Arbeitselefanten haben Mittwochnachmittag frei. An jedem Tempeleingang steht jemand, der die Flipflops der Gläubigen und die Birkenstocksandalen der Deutschen in Verwahrung nimmt, in kleine Schuhschränkchen am Tempeleingang stellt und "shoe money" verlangt.

Genug von Schuhen! Genug von Mittwochselefanten! Der Leser mag mich verfluchen, weil ich ungebührlich ins Blaue hineinschwatze. Wir tauschen also in der Bank unsere Reiseschecks und bekommen ein großes, mit einer Klammer zusammengeheftetes Bündel Geld und ein paar kleine Scheine. Die kleinen Rupiennoten haben vom vielen Zusammenklammern schon ein riesiges Loch in der Mitte. Es gibt sogar Rupienscheine, deren Loch in der Mitte so groß ist, dass zwei Fitzelchen der Banknote in einer durchsichtigen Plastiktüte als Zahlungsmittel dienen.

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Vermutlich ist der ältere bebrillte Herr mit schlohweißem Haar, der im kleinen Vorraum des Palast-Museums sitzt, Herr Jethi. Er sieht sich Gujarati-TV an und schaltet, als wir kommen, den Ton aus. Gegen den Raummuffel hat er Räucherstäbchen angezündet. "Are you Mr. Jethi?", fragen wir.
"Yes, I am.” Herr Jethi begrüßt uns mit einem kräftigen Händedruck und einem freundlichen Redeschwall. Er sei Professor für Medizin an der hiesigen Krantiguru Shyamji Krishna Verma Kachchh Universität gewesen. Mittlerweile sei er Rentner, arbeite ehrenamtlich im Aina Mahal in der Tourist Info und setze sich vor allem für das Wohl der Blinden in Gujarat ein. Ob wir nicht Lust haben, morgen auf eine Benefiz-Gala des hiesigen Blindenbundes im alten Rathaus zu kommen? Es werde bestimmt ein toller Abend. Ein großes Fest mit Musik und Volkstänzen. Der berühmte "Gipsy, the blind magician", der einzige blinde Zauberer der Welt, werde auftreten und Zaubertricks aufführen. Auf der Visitenkarte des weißhaarigen Herrn P. J. Jethi stehen unter seinem Namen Dutzende akademische Titel: "B.Sc. Sanitary Eng.; M.Sc. Parasitology; Ph.D. Psy; Dip.In Drugless Therapy; Dr. Of Physical Therapy; Dr. Of Medical Toxicology." Ich traue mich nicht, ihn zu fragen, ob "B.Sc. Sanitary Engineering" nicht "Klempner" bedeute. Oder heißt "Klempner" doch "plumber"? Scheint jedenfalls ein schlauer Mann zu sein, dieser Herr Jethi, der jetzt Ort und Uhrzeit der Blindenbenefizgala auf die Rückseite seiner Visitenkarte schreibt und sie uns überreicht. "If there has been no monsoon, the picturesque Hmisar lake remains dry", sagt Herr Jethi. "You are very lucky, my friends." Er sieht uns über den Rand seiner dicken Brille freudig an.

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