Am Erker 65

 
Texte
Am Erker 65, Münster, Juni 2013
 

Markus Orths
Der Rindenschnitz-Tick

Eine unserer derbsten Macken ist der von uns als Rindenschnitz-Tick bezeichnete Wahn, dem zwar nicht alle, aber doch viele unserer Quadrupelhirne verfallen sind. Mit diesem Wort bringen wir die Tatsache zum Ausdruck, dass wir, die Rindenschnitzer, im Grunde genommen an keinem Baum vorbeigehen können, ohne etwas in dessen Rinde zu schnitzen, zu kerben, also gravierend zu gravieren. Rindenschreiber nennen wir uns, Rindenkerber, Rindenstichlinge. Von den anderen, den Nicht-Rindenschnitzern, werden wir auch als Rindenschmierer oder Schmierfichten, Eibenschreiber oder Eichenschänder bezeichnet. Aber wir können nichts dafür. Das ist wie ein ungeheurer Stromschlag, der uns durchfährt, sobald wir einen Baum sehen. Dann hüpfen wir sofort hin, zücken unsere Rindenschnitzmesser - wir haben eigens Maschinen entworfen, die ausschließlich Rindenschnitzmesser herstellen und sich immer schönere Messerdesigns ausdenken und immer höherwertige Messerschärfen entwickeln, und diese Entwicklung geht vom antiquierten Ulmenschrubber über Pappelschäler, Lindensünden und Eichelmäher (eingefügt sei an dieser Stelle ein Hinweis darauf, dass die Rindenschnitzmesserbaumaschinen von uns so kalibriert wurden, dass sie für die Bezeichnung ihrer Erzeugnisse zu Alliterationen, Assonanzen oder Wortspielen neigen und so schöne Messer erschufen wie Buchenbluter, Datteldrechsler (weitaus gröber als der zarte Datteldorn), Harzhöhler, Heidenhaspler, Kiefernkapper, Kirschbaumkitzler, Lorbeerlöser, Mahagonimurkser, Nussbaumnagler, Palmenpopler, Staudenspalter, Weidenwühler oder Zedernzwicker), die Entwicklung, sage ich, geht also bis hin zu den filigranen, den absoluten Höhepunkt der Rindenschnitzmessermaschinenbaukunst markierenden Rindenschnitzmessern Fichtenritzer, Gingkogravierer, Tannennadel und Datteldocht - wo war ich? -, wir hüpfen also hin und ritzen in die Rinden alles, was uns in diesem Augenblick durch den Kopf geht. Das können Aphorismen sein ("Ein gedachtes Wort ist auch ein Docht") oder Gedichte oder einfach nur sinnloser Unfug. Ja, die Tatsache, dass ich schreiben und lesen kann, verdanke ich ausschließlich meinem Rindenschnitzwahn, meiner Rindenschnitzbesessenheit. Kann dieser Wahn anfangs noch durch das Hineinschnitzen von Bildern oder Ornamenten gestillt werden, so reicht das irgendwann einfach nicht mehr. Wir kommen an den Punkt, da wir endlich die Bildhaftigkeit unserer Rindenschnitzereien hinter uns lassen und wirklich etwas sagen müssen. Während also diejenigen Quadrupelhirne, denen jene Rindenschnitzbesessenheit abgeht, überhaupt nicht lesen und schreiben können, weil sie diese Fähigkeiten nicht brauchen, haben wir Rindenschnitzbesessenen eigens das Schreiben (in ein paar Tagen) gelernt, um unsere Besessenheit in einem Maß ausleben zu können, das uns befriedigt. Die übrigen Quadrupelhirne sind von unserer Manie nicht gerade begeistert, dulden diese mit einem achselzuckenden Bin froh, dass ich nicht so bin, ärgern sich aber nichtsdestotrotz auf jedem Spaziergang, der sie an Bäumen vorbeiführt, deren Rinden von Rindenschnitzereien zerstört sind. Wir Rindenschnitzer treffen uns zu den jährlichen Rindenschnitzweltmeisterschaften. Wir fiebern auf nichts anderes so sehr hin wie auf diese alljährlich im Juni stattfindenden Rindenschnitzweltmeisterschaften. Im Juni stehen die Bäume voll im Saft. Im Juni sind die Bäume jung und frisch und bluten manchmal harzig, wenn man sie beschnitzt. Der Juni ist die Zeit des Jahres, in der alles in vollster Blüte erblüht ist. Im Juni treffen wir uns - immer in einem neuen, reinen, unbeschnitzten Wald -, die sechzehn besten Rindenschnitzer der Welt, die in den von März bis Mai stattfindenden Rindenschnitzweltmeisterschaftsqualifikationen ermittelt worden sind. Bei den Weltmeisterschaften gibt es verschiedene Bewertungskriterien, nämlich a) die Schnelligkeit, in welcher der Rindenschnitzer seine Rindenschnitzereien in die Rinde geschnitzt hat (das wird immer objektiv und immer korrekt bemessen (die Anzahl der Sekunden in Relation zur Anzahl der geschnitzten Buchstaben)), b) die Schönheit und Deutlichkeit der geschnitzten Buchstaben (hier gibt es oft Riesenstunk unter den Rindenschnitzern, da die Einschätzung wirklich rein subjektiv ist und von einer vorab immer neu gewählten Jury vorgenommen wird), c) die Originalität des in die Rinde geschnitzten Textes (worüber zum Glück das Publikum entscheidet, zahllose Rindenschnitzerfans, die uns Rindenschnitzmeistern zusehen und selber begeisterte, besessene Rindenschnitzer sind, deren Talent für die Rindenschnitzweltmeisterschaften aber nicht ausgereicht hat und die sich nun beim Zuschauen der Rindenschnitzchampions derart zurückhalten müssen, nicht selber auf die Bäume zu stürzen und loszuschnitzen, dass man diesen Drang kanalisiert, indem man ihnen Rindenstücke auf die Plätze legt, in die sie die Namen derjenigen Rindenschnitzer einschnitzen können, deren Rindenschnitzereien sie als ganz besonders originell empfinden). O, Juni! Der Duft des Harzes, die Vögelchen des Waldes, das Zirpen der frisch geschlüpften Insekten, das Jucken der Rindenschnitzfinger, o, Juni, diese jungfräulichen Rinden der Bäume, die darauf warten, beschnitzt zu werden, die reine Weißheit des Rinden-Papiers, das leise Klagen der Bäume im Wind, die wissen, was auf sie zukommt, die sich aber nicht entziehen können und sich wurzelhaft fügen müssen in unser Rindenschnitzfest. O, Juni, wir bibbern, wir harren, wir warten auf den Startschuss des Rindenschnitzweltmeisterschaftsschiedsrichters! Wir stürmen los, in der Gruppenphase kämpfen wir Mann gegen Mann, immer in Vierer-Gruppen, hier geht es noch - als Einstimmung - um die Anzahl der von uns in fünf Stunden beschnitzten Bäume, wir alle haben denselben Text, den wir wieder und wieder in die Rinden schnitzen müssen, und hier sind die konditionellen Grundlagen entscheidend, die wir Champions im Rindenschnitzweltmeisterschafts-Trainingslager gelegt haben. Wie groß meine Freude, als ich im letzten Jahr diese Gruppenphase erstmals in meiner Karriere als Rindenschnitzweltmeisterschaftsteilnehmer schadlos überstand. Und somit sogleich ins Viertelfinale der Rindenschnitzweltmeisterschaften vorpreschte. Auch da gewann ich, knapp zwar, gegen den holländischen WM-Favoriten Georg Ulmenhorst, und eigentlich nur, weil dieser sich in einem einzigen Moment mangelnder Konzentration (ich hatte ihm, sehend, dass ich keine Chance gegen ihn hatte, verzweifelt und verärgert zugeflüstert, warum er nicht zu Hause geblieben sei, um die Rinden seiner Käse zu schnitzen) den Finger geritzt hatte, da er sich über meine Worte maßlos aufregte und was von Fairplay faselte, zu mir herübersah, und dabei geschah das Missgeschick, sein Zedernzwicker rutschte an einer Rindennoppe ab, und das zweiklingige Messer bohrte sich in den Raum zwischen Daumen und Zeigefinger, sodass er unmöglich weiter schnitzen konnte und ich dann doch noch haushoch gewann, und auch seine Proteste von wegen unfair wurden abgeschmettert, da der nebenstehende Schiedsrichter meine Worte nicht gehört hatte. Das Halbfinale gewann ich überraschenderweise locker und ganz ohne Tricks. Aber letztlich scheiterte ich im Endspiel am Großmeister der Rindenschnitzkunst, Lionel Messer, elffacher Weltmeister, 75.864 beschnitzte Bäume, unangefochtene lebende Rindenschnitzlegende (nur noch überboten vom sagenumwobenen Altmeister Peller, der in seinem Leben 128.054 Bäume beschnitzt und eigentlich nichts anderes getan hatte, Zeit seines Lebens, als zu schnitzen), aber ich war dennoch froh, so weit gekommen zu sein, hatte mein Bestes gegeben und lediglich enormes Pech im Kampf gegen Lionel Messer gehabt. Lange Zeit hatte ich das Rindenschnitzduell ausgeglichen gestalten können, ehe meine ultrascharfe und höchst filigrane Datteldocht-Klinge einfach entzweibrach und ich die entscheidenden zehn Sekunden verlor, bis mir mein Rindenschnitz-Shabby das Ersatzmesser brachte, einen Gingkogravierer, mit dem ich nicht so geübt war, wodurch Lionel Messer einen Vorsprung ergatterte, den ich weder einholen noch durch die Schönheit und Originalität meines in die Rinden geschnitzten Textes irgendwie ausgleichen oder wettmachen konnte. Doch immerhin darf ich mich jetzt mit Fug und Ritz als Rindenschnitz-Vizeweltmeister bezeichnen. Aber ich fürchte, ich habe mich hinreißen lassen, oder?

Auszug aus einem in Arbeit befindlichen Roman.